Mike Flanagan ist so etwas wie der Kronprinz der Horrorszene. Seit seinen Anfängen mit Filmen wie „Oculus“ oder „Ouija: Ursprung des Bösen“ hat sich Flanagan zum neuen Stephen King-Regisseur hochgearbeitet und sowohl „Das Spiel“ als auch „Doctor Sleep“ verfilmt. Mittlerweile hat sich Flanagan allerdings weitgehend auf Serien für Netflix verlegt. Und drehte mit „Spuk in Hill House“ eine der besten Horror-Serien, die Netflix überhaupt hat. Der Nachfolger „Spuk in Bly Manor“ war schwächer, aber noch immer gut und mit „Midnight Mass“ ließ sich Flanagan nicht nur massiv von King-Werken inspirieren, sondern schuf auch einen außerordentlichen Slowburner. Nun kommt „Gänsehaut um Mitternacht“ – kann Flanagan sein Niveau halten?
Die Handlung
Die USA Mitte der 90er Jahre. Die junge Ilonka (Iman Benson) wurde bereits vom Leben gebeutelt und lebt nach harter Kindheit seit Jahren bei einem liebevollen Pflegevater. Da wird bei der jungen Frau Schilddrüsenkrebs diagnostiziert. Zwar nimmt sie den Kampf auf, doch alle Therapien schlagen nicht an. Und so muss sich Ilonka mit dem Gedanken abfinden, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Bei Recherchen im Internet entdeckt sie das Jugendhospiz Brightcliffe, das sich auf Fälle wie den ihren spezialisiert hat. So überredet sie ihren Vater, sie dorthin zu bringen, um ihre letzten Monate unter anderen todkranken Jugendlichen verbringen zu können, die ihre Situation verstehen.
Schnell findet die clevere Ilonka heraus, dass die anderen Patienten wie der an Leukämie erkrankte Kevin (Igby Rigney), Spencer (Chris Sumpter), der an AIDS leidet oder ihre neue Zimmergenossin Anya (Ruth Codd) sich nachts heimlich in der Bibliothek des alten Gemäuers treffen. Dort trinken die Teenager Alkohol und erzählen sich gegenseitig Gruselgeschichten. Außerdem schwören sie dort immer wieder, dass der erste, der stirbt, einen Weg zurückfinden soll, um den anderen Mitgliedern dieses Mitternachtsclubs vom Jenseits zu erzählen. Bald wird Ilonka in die Gruppe aufgenommen, doch ihre Motive sind anders als die der übrigen. Sie hat von einer Patientin gelesen, die vor Jahrzehnten nach seltsamen Vorkommnissen als geheilt entlassen wurde. Das will auch Ilonka schaffen …
Geisterbahn statt Atmosphäre
Ein altes, unheimliches Haus, eine verzweifelte Gemeinschaft und viele Geister der Vergangenheit, die nicht zur Ruhe kommen – Gänsehaut um Mitternacht klingt eigentlich wie eine weitere Staffel Spuk in …, denn die Zutaten sind ähnlich. Allerdings weicht die Vorlage diesmal ab. Während für die Spukstaffeln Klassiker wie die Romane von Henry James und Shirley Jackson adaptiert wurden, dient diesmal der gleichnamige Young Adult-Roman von Christopher Pike als Vorlage. Und das merkt man der Serie deutlich an. Zwar bietet bereits die erste Folge einen angeblichen Weltrekord an Jump Scares. Dennoch ist die Serie bei weitem nicht so erschreckend wie Spuk in Hill House, noch immer Flanagans beste Netflix-Show.
Immer wieder wirken die Szenen, als habe Flanagan seine Autoren und Regisseur gebremst, um nicht zu gruselig zu werden. Und so wirken viele Szenen nicht nur harmloser als frühere Arbeiten, sie werden durch die Menge auch nicht besser. So hallt Gänsehaut um Mitternacht trotz seiner düsteren Vorgaben von todgeweihten Teenagern weit weniger nach, als die dysfunktionale Crain-Familie aus Hill House. Was auch an dem ungewöhnlichen Format der Serie liegt. Denn der Zuschauer bekommt die einzelnen Geschichten, die die Mitglieder nachts erzählen, als eigenen Kurzfilm innerhalb der Serie zu sehen. Die sind gerade zum Start der Serie wenig beeindruckend, kosten dennoch oft mehr als die Hälfte der Zeit einer Folge. Dadurch kommt die Hauptstory um das Geheimnis von Brightcliffe nur sehr schleppend voran.
Zuviele Storys für eine Serie
Flanagan-Kenner wissen zwar, dass man dem Maestro ein wenig Zeit lassen muss, bis seine Stoffe so richtig in Fahrt kommen. Aber diesmal dauert das extrem lange. Erst ab der Hälfte der Staffel wird Gänsehaut um Mitternacht langsam spannend. Und erzählt auch dann erst eine richtig gute Story innerhalb der Club-Geschichten. Selbst danach bleibt das Tempo der Erzählung niedrig, dafür zeigt Flanagan immer wieder die gleichen Geisterszenen. Was auf Dauer fast langweilt, weil der Zuschauer auch in Folge sieben noch nicht mehr über sie weiß als zu Beginn. Der ganz reale Horror der sterbenden Jugendlichen kann die Lücke aber nicht füllen, denn auch dieser Teil des Plots tritt nur selten in Erscheinung, wenn auch ungleich emotionaler als der Rest.
Stark ist hingegen der Cast, den Flanagan für die Serie um sich sammelte. Von den jungen, recht unbekannten Teenager-Darstellern sticht vor allem Ruth Codd als wenig sympathische Anya hervor, die viel aus ihrer Rolle herausholt. Dazu hat der Showrunner mit Zach Gilford und Samantha Sloyan zwei der besten Schauspieler aus Midnight Mass erneut vor die Kamera geholt. Höhepunkt für Genre-Fans ist aber natürlich Heather Langenkamp als Dr. Stanton, Leiterin von Brightcliffe. Seit ihren Auftritten in „Nightmare on Elm Street“ 1 und 3 gehört sie zu den Ikonen des modernen Horrorkinos und absolviert hier einen angemessenen Auftritt in gleich mehreren Rollen. Zu einer guten Serie macht aber auch sie Gänsehaut um Mitternacht nicht.
Denn mit dem Konglomerat aus Anthologie-Serie mit kurzen Horrorstorys, den todkranken Teens, deren Zustand die meiste Zeit aber nur Mittel zum Zweck ist, um die Figuren zusammenzubringen, und der oftmals auf der Stelle tretenden Hauptgeschichte um die bunte Vergangenheit von Brightcliffe, kann Gänsehaut um Mitternacht Flanagans früheren Serien nicht das Wasser reichen, was auch an teilweise erstaunlich schlechten CGI-Effekten liegt. Nun bleibt zu hoffen, dass seine Edgar Allan Poe-Serie „The Fall of the House Usher“ und „Something is Killing the Children“, eine Horror-Comic-Adaption, wieder die Qualität seiner früheren Shows erreichen.
Fazit:
Nicht Fisch, nicht Fleisch! Gänsehaut um Mitternacht bremst seine eigene Story immer wieder durch oft nur wenig überzeugende Kurzgeschichten innerhalb der Serie aus. Und erzählt deutlich zu behäbig von einigen sterbenskranken Teenagern, die einen düsteren Pakt schließen. Die immer wieder gleichen Geister sind auf Dauer ebenso ermüdend wie das Erzähltempo, das nochmal langsamer ist als bei Midnight Mass und im Gegensatz dazu auch keine brillante letzte Folge bietet. Zwar ist die Serie handwerklich (bis auf die CGI-Tricks) immer solide bis gut, aber eine morbide Optik allein macht noch keinen Horror. Hier verzettelt sich Flanagan zu sehr, um mehr als Durchschnitt abzuliefern. Hoffentlich kann sich der 44-jährige mit den kommenden Serien wieder steigern.
Gänsehaut um Mitternacht startet am 7. Oktober 2022 bei Netflix.