1899

Serienkritik: 1899

Zwischen 2017 und 2020 landeten Baran bo Odar und Jantje Friese mit drei Staffeln „Dark“ einen weltweiten Serienhit auf Netflix. Die Mystery-Serie, in der unterschiedliche Zeiten eine große Rolle spielten, bestach mit komplexer Handlung und zumindest teilweise superbem Schauspiel, war aber manchem Zuschauer fast schon zu verwirrend. Und so machten bald Schaubilder im Internet die Runde, auf denen die komplizierten Verhältnisse der Serie anschaulicher erklärt wurden. Ob auch die neue Serie des Duos, die jetzt beim Streamingdienst startet, einen ähnlichen Plan braucht, ob „1899“ ebenfalls das Zeug zum Hit hat und warum hier die Sprache eigentlich eine entscheidende Rolle spielt, klärt die Kritik.

Andreas Pietschmann
Als nach Monaten das verschollene Schwesternschiff auftaucht, ist Kapitän Eyk vor eine schwere Wahl gestellt.

Die Handlung

Wir schreiben das Jahr 1899. Der Dampfer „Kerberos“ durchpflügt den Atlantik auf dem Weg in die USA. Noch immer Gespräch an Bord: das spurlose Verschwinden von Schwesternschiff „Prometheus“ vor vier Monaten. Einige der Passagier interessieren sich aber ganz besonders dafür, denn sie haben von einem Unbekannten einen Brief bekommen, in dem ein Zeitungsartikel über die Prometheus steckt. So vermutet die junge Ärztin Maura (Emily Beechum) ihren vermissten Bruder auf dem Schiff. Auch Kapitän Eyk (Andras Pietschmann) hat einen solchen Brief erhalten. Und der kämpft nicht nur mit Kurs und Wellen, sondern auch mit einem Trauma nach einer persönlichen Tragödie.

Als der Funker dann meldet, er bekäme regelmäßig Koordinaten zugeschickt, die ansonsten unkommentiert blieben, hat Eyk eine Vermutung und lässt den Kurs zum angegebenen Ort ändern. Tatsächlich hat ihn sein Gefühl nicht getrogen. Denn die Kerberos sichtet das verloren gegangene Schwesterschiff – die Prometheus. Allerdings findet die kleine Gruppe, die an Bord geht, nicht das, was sie erwartet hat. Denn das Schiff beherbergt keine 1400 Leichen, sondern ist komplett menschenleer. Zumindest denken das die Sucher so lange, bis sie auf einen Jungen stoßen, den irgendjemand in einem Schrank eingeschlossen hat. Er hält eine seltsam aussehende, schwarze Pyramide in seinen Händen und spricht kein winziges Wort …

Ein neues „Lost“

Als eine der besten Mystery-Serien aller Zeiten gilt „Akte X“, außerdem hat die TV-Serie „Lost“ viele Fans in diesem Bereich. Und der Vergleich mit letzterer passt auch für 1899, da die neue Serie von bo Odar und Friese ebenfalls eine lange Story erzählt. Und die erinnert auch immer wieder an die erfolgreiche US-Serie, die von J.J. Abrams und Damon Lindelof geschaffen wurde. Deren großes Manko war es, dass den Machern nach einem großartigen Start irgendwann die kreative Luft ausging und die Serie von Staffel zu Staffel schwächer wurde. Das müssen Fans bei 1899 nicht befürchten. Die Macher haben die Serie auf drei Staffeln geplant, sollten den Schluss also bereits kennen. Nun muss die Serie nur noch erfolgreich genug werden, damit Netflix auch alle drei Staffeln ordert.

Die Chancen dafür stehen gut. Denn bo Odar und Friese erinnern natürlich mit ihrer neuen Serie an Dark, erschaffen aber etwas, das eigenständig genug ist, um nicht andauernd an ihren Hit zu erinnern. Auch hier bauen die Macher ein recht großes Ensemble zu Hauptfiguren auf. Alle bekommen ihre Zeit, um ein wenig Tiefe und Kontur zu erhalten, auch wenn nicht alle davon wirklich interessant sind. Das größte Problem der Serie liegt allerdings in der deutschen Sprachversion. Denn im Gegensatz zum englischen Original, in der das Publikum neben Englisch auch Deutsch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Dänisch und sogar Kantonesisch hört und entsprechende Untertitel eingeblendet bekommt, gibt es in der deutschen Sprachversion nur Deutsch.

1899
Der einzige Überlebende der Prometheus ist ein kleiner Junge, der nicht spricht.

Das mag zwar bequemer sein, nimmt 1899 aber viel von ihrem Flair. Den es geht eben auch darum, dass sich die zusammengewürfelte Schar von Passagieren untereinander nicht versteht. Und dieser Umstand geht in der deutschen Sprachversion komplett über Bord. Das schadet der Atmosphäre und entzieht der Serie ein wenig von den starken Mystery-Momenten, die sie schafft.

Aufmerksames Sehen nötig

Denn die Mischung aus persönlichen Schicksalen und (mindestens) einem großem Mysterium funktioniert auch in 1899 gut. Wie schon Dark ist 1899 aber keine Serie, der man zwischen Abendessen schneiden und auf Smartphone schauen großartig etwas abgewinnen kann. Die kühl inszenierte und bebilderte Serie, die mehr den Intellekt als das Gefühl anspricht, wimmelt vor Andeutungen und möglichen Hinweisen und verlangt schon deshalb die volle Aufmerksamkeit des Publikums. Worum es hier genau geht (insofern man das nach sechs von acht Folgen der ersten Staffel überhaupt schon beurteilen kann), soll natürlich nicht verraten werden. Aber das Symbol eines durchgestrichenen Dreiecks spielt offenkundig eine große Rolle, soviel sei gesagt. Also Augen offenhalten!

Schauspielerisch bietet 1899 mehr als der Vorgänger. Zwar konnten in Dark bekannte Größen wie Oliver Masucci oder Angela Winkler überzeugen, aber längst nicht alle Rollen waren stark besetzt. Das ist in 1899 anders, hier gibt es keinerlei Ausfälle zu verzeichnen. Jede Figur ist stark gespielt, selbst wenn ihre Story nicht sonderlich viel hergibt. Dazu liefern die Macher erneut eine extrem starke Soundkulisse für ihren Alptraum auf hoher See ab. Und begeistern dazu Fans von Rock-Klassikern mit einem Song zum Ende jeder Folge. Titelmusik der Serie ist mit „White Rabbit“ von „Jefferson Airplane“ denn auch passenderweise eine Hymne des Psychedelic Rock, in der es textlich um Alice im Wunderland geht. Um einen Zufall dürfte es sich dabei wohl kaum handeln. Auch die Namen der Schiffe dürften mit Bedacht gewählt sein.

1899
Die dänische Familie, die in die USA fliehen will, muss einen herben Verlust ertragen.

Wenn man der Serie etwas vorwerfen will, dann ist es die bereits angesprochene Kühle. Es ist nicht leicht, mit den Charakteren der Geschichte warm zu werden, denn bo Odar und Friese achten darauf, einen deutlichen Abstand zwischen Publikum und Protagonisten einzuhalten. Das erhöht zwar die Rätselhaftigkeit des Plots und der Akteure darin, schafft aber kaum Berührungspunkte, bei denen Zuschauer wirklich emotional gebunden ist. So bleibt man über weite Teile der Story nur interessierter Beobachter – hier böte 1899 noch Luft nach oben. Ansonsten ist die neue Serie der Dark-Macher eine optisch auf Goldrand genähte Reise in einen absolut sehenswerten Alptraum.

Fazit:

Nein, die neue Serie 1899 der Dark-Macher unterscheiden sich nicht völlig vom Vorgänger. Wer Dark gesehen hat, wird genug Parallelen entdecken, um die Verwandtschaft zu sehen. Aber die neue Story unterscheidet sich dennoch genug von der alten, um problemlos als eigenständig durchzugehen. Dabei sind Ausstattung, Schauspieler und Sound auffällig stark, während das Drehbuch mit der einen oder anderen Schwäche aufwartet. So ist es vor allem die betont kühle Erzählweise, die 1899 eher zum Vergnügen für den Kopf macht. Denn das Miträtseln und Hinweise suchen dürfte dem richtigen Publikum viel Spaß machen. Wer sich auch emotional so richtig in eine Serie versenken will, ist hier aber (bislang) falsch.

Gesehen: Sechs von acht Folgen

1899 startet am 17. November 2022 bei Netflix.

Emily Beechum
Können Daniel, Maura und Eyk das Rätsel um die Schiffe Kerberos und Prometheus lösen?