Horror oder Science Fiction mit Kindern ist immer eine zweischneidige Sache. Oft fallen Filmemachern nur platte Attitüden wie das vom Bösen besessene Kind ein. Oder die jungen Darsteller nerven extrem. Nur selten gelingen Filme, in denen die Kinder glaubhaft Kinder spielen und sich dennoch eine Atmosphäre entwickelt, die ganz ohne böse Mächte Spannung aufbaut. Und bei denen die Kinder trotzdem im Zentrum der Geschichte stehen. Der norwegische Drehbuchautor Eskil Vogt hat mit seinem zweiten Film als Regisseur nun „The Innocents“ abgeliefert. Und präsentiert eine Story, auf die Stephen King ähnlich stolz wäre wie Brian De Palma. Warum der Norweger hier stark abliefert, analysiert die Kritik.

Die Handlung
Die neunjährige Ida (Rakel Lenora Flottum) zieht mit ihren Eltern und ihrer autistischen Schwester Anna (Alva Brynsmo Ramstad) in eine Plattenbausiedlung in der Nähe einer großen Stadt, weil der Vater dort einen neuen Job angefangen hat. Von außen wirkt Ida wie ein Engel. Doch hinter den strahlend blauen Augen verbirgt sich mehr, als der erste Blick zeigt. So hat Ida ihren Spaß daran, ihre Schwester bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu quälen und ihr absichtlich weh zu tun. Das geht sogar soweit, dass sie ihr heimlich Glasscherben in die Schuhe füllt, weil sie weiß, dass Ana sich nicht bemerkbar machen kann. Als sie beim Umherstreunern in ihrer neuen Heimat auf den kleinen Ben (Sam Ashraf) trifft und sich mit ihm anfreundet, ahnt sie nicht, mit wem sie sich da einlässt.
Als Ida auf Anna achten soll, die auf dem Spielplatz auf einer Schaukel sitzt, stattdessen aber mit Ben wegläuft, wird Anna von Aisha (Mina Yasmin Bremseth Asheim) angesprochen. Und die beiden scheinen ganz ohne Worte kommunizieren zu können. In den kommenden Tagen bessert sich sogar Annas Zustand und sie beginnt wieder zu sprechen. Dass Aisha dahintersteckt, die mit Anna eine Art Verbindung eingegangen ist, ahnt aber nur Ida. Die auch weiß, dass Ben ähnliche Fähigkeiten entwickelt hat: Er kann Dinge kraft seines Willens bewegen. Doch während Aisha ihre Kräfte nutzt, um Anna zu helfen, ist der verschlossene Ben ein ganz anderes Kaliber …
Unheimliche Kinder – oder doch ganz normale?
Sollte man einen erfahrenen Drehbuchautor und Regisseur unterstellen, dass er den Namen seines neuen Films zufällig ausgesucht hat? Sicherlich nicht. Und so wird es kein Zufall sein, dass The Innocents auch der Name der Verfilmung von Henry James‘ Erzählung „The Turn of the Screw“ aus dem Jahr 1961 ist. indem zwei Kinder eine wichtige Rolle spielen. (Mike Flanagan erzählte die Story als „Spuk in Bly Manor“ ebenfalls.) Inhaltlich orientiert sich Vogt zwar mehr an Stoffen wie „Carrie“ oder „Feuerkind“ von Stephen King. Auch die „New Mutants“ oder „Chronicle“ fallen dem Filmfan ein, wenn er The Innocents sieht. Doch Vogt gelingen gleich mehrere Kunststücke, die den Film von den möglichen Inspirationen abheben und eigenständig machen.
So erzählt er seinen Film hauptsächlich aus der Perspektive von Ida, während „Schloß des Schreckens“, wie The Innocents von 61 auf Deutsch hieß, die Kinder aus der Sicht einer Gouvernante zeigt. Und trotz des Perspektivwechsels bleiben einige Kinder hier ähnlich rätselhaft, als würde man sie aus einiger Entfernung beobachten. Was wiederum dennoch nicht verhindern kann, dass die Zuschauer eine Verbindung zu diesen vier Kindern aufbauen, die in Vogts Film eindeutig die Hauptrollen spielen. Und darin so überzeugend sind, dass erwachsene Zuschauer über so viel Schauspielkunst überrascht sein dürften. Wäre es anders, hätte der Film auch nicht eine solche emotionale Kraft, der man sich kaum entziehen kann, sobald die Geschichte an Fahrt aufnimmt.

Schwer zu ertragende Szenen
Drehbuchautor und Regisseur in Personalunion erweist sich hier als Glücksfall. Denn Vogt hatte manche Szene offenbar klar vor seinem geistigen Auge, als er sie schrieb. So erzählt er seine Geschichte vornehmlich über Bilder und nicht über Text. Tatsächlich wird im ganzen Film von den Kindern nur wenig gesprochen und dennoch weiß der Zuschauer immer, woran er ist. Das ist wichtig, um die Ambivalenz der Story zu gewährleisten, The Innocents lässt sich so durchaus in ganz verschiedene Richtungen deuten. Vogt gelingt ein spannender Einblick in die Welt von Kindern, die eben keine kleinen Erwachsenen sind, sondern viele gesellschaftliche Schranken im Kopf noch nicht ausgebildet haben. Dies zeigt Vogt mit zum Teil schwer erträglicher Härte. Für Tierliebhaber könnte The Innocents daher nach etwa 25 Minuten auch schon zu Ende sein.
Wer dennoch im Kino bleibt, erlebt danach nicht nur die spannende Entwicklung einer Neunjährigen mit, die als an Moral nicht interessierten und von Gewalt fasziniertem Kind beginnt, eigene Werte zu entwickeln – ganz ohne elterliches Zutun. Sondern auch eine Bestie in Menschengestalt, die nicht nur fast an ihrem eigenen Tun verzweifelt. Sondern dem Zuschauer auch zwingend die Frage stellt, wer sie erschaffen hat. Vogt liefert dazu Hinweise wie einen großen blauen Fleck, ist aber viel mehr am Konflikt als an der Entstehung der Figur interessiert. Warum tue ich etwas, von ich weiß, dass es falsch ist? So wird der Kampf zwischen den Kindern, die sich in verschiedene Richtungen entwickeln, zur Allegorie auf das Leben.
Und er findet in einem Mikrokosmos statt, zu der Erwachsene keinen Zugang mehr finden. Das extrem starke Finale zeigt das mehr als deutlich. Doch selbst für ein Publikum, das sich für diese großen Fragen gar nicht interessiert, bleibt The Innocents als eine Art naturalistische X-Men-Version ein unterhaltsamer Film, auch wenn letztlich sehr viel mehr in ihm steckt.

Fazit:
Mit The Innocents ist Drehbuchautor und Regisseur Eskil Vogt ein ebenso fesselnder wie in Teilen grausamer Film über das unbekannte Wesen Kind gelungen. Durch die allesamt herausragenden Jung-Darsteller erreicht der Film eine selten gesehene Intensität und macht auf eine Art Angst, die haften bleibt. Dabei nutzt Vogt einfache Mittel, um seine Geschichte zu erzählen, die ebenso als unheimlicher Superhelden-Horror funktioniert wie auch als kluge Studie über das Verlieren der Unschuld und die daraus resultierenden Konsequenzen. Einer der besten Genre-Filme des bisherigen Jahres.
The Innocents startet am 14. April 2022 in den deutschen Kinos.
