Tom Sturridge

Serienkritik: Sandman

Neil Gaiman ist heute bei vielen Fantasy-Fans ein bekannter Name. So ist sein Roman „American Gods“ zu einer Serie geworden, auch „Good Omens“ wurde verfilmt und wird fortgesetzt. Doch begonnen hat Neil Gaimans Weltruf als begnadeter Fantasy- und Horrorautor mit „Sandman“ (1989-96). Mit 75 Ausgaben, auch bei DCs Unterlabel Vertigo, hat die abgeschlossene Saga mehr Eisner-Awards (eine Art Comic-Oscar) bekommen als die meisten anderen Comics der vergangenen 50 Jahre, allein von 1991 bis 1994 gewann Gaiman als bester Autor viermal in Folge. Seit Jahrzehnten wurde bereits versucht, die Story um den unsterblichen Herrscher des Traumreiches zu verfilmen, nun ist es als Serie bei Netflix endlich gelungen. Wie magisch ist die erste Staffel geworden? Das verrät die Kritik.

Tom Sturridge
Dream sitzt ein Jahrhundert in einem Gefängnis fest – mit Auswirkungen auf die Menschheit.

Die Handlung

Dream (Tom Sturridge) ist der Herr der Träume und regiert sein Reich mit  der ihm gegebenen Ruhe und Umsicht. Er ist einer der sieben Ewigen, der nicht altert und nicht stirbt und mit seinen Geschwistern verschiedene Aufgaben für die Menschheit verrichtet. Doch eines Tages wird Dream von einem britischen Magier (Charles Dance) gefangen genommen. Der wollte eigentlich Dreams Schwester Death (Kirby Howell-Baptiste) in die Finger bekommen, um sie zur Herausgabe seines geliebten Sohnes zu zwingen. Doch durch einen Fehler im Ritual landete Dream in seinem Käfig. Nachdem der Magier dem Ewigen seine Utensilien der Macht weggenommen hat – einen Beutel Sand, einen Traumrubin und einen unheimlichen Helm – will der Dream dazu bringen, ihm zu helfen. Doch der sagt kein Wort.

Mehr als 100 Jahre lang nicht. Erst dann gelingt es Dream, oder Lord Morpheus, wie seine Untertanen ihn bisweilen nennen, endlich die Flucht und er jagt erst seine Peiniger und sucht dann nach seinen verlorenen Gegenständen. Denn die richten, wie Dream nur zu gut weiß, in den Händen von Sterblichen möglicherweise großen Schaden an. Auf seiner Suche trifft er die Magierin Joanna Constantine (Jenna Coleman) in London und Lucifer (Gwendoline Christie) in der Hölle. Aber die Rückerlangung seiner Utensilien sind nicht sein einziges Problem, wie er feststellen muss. Auch einige seiner Träume und Alpträume haben in seiner Abwesenheit das Traumreich verlassen und sich auf der Erde versteckt. Und einer davon wurde zum Serienkiller …

Keine pubertierenden Vampire

Wer Sandman für eine typische Netflix-Fantasy-Serie hält, in der sich junge Feen, Hexen, Vampire oder andere magische Wesen sich mit bösen Gegnern, der ersten Liebe und den fiesen Hormonen herumschlagen müssen, und die Netflix gerade sehr regelmäßig bereits nach einer Staffel beerdigt, muss umdenken. Denn diese Serie ist etwas völlig anderes – in fast jeder Hinsicht. Die meisten der auftauchenden Figuren sind unsterblich und schon tausende Jahre alt. Es sind meist keine Menschen und waren auch nie welche. Und sie haben Aufgaben zu erledigen, die sie die Menschheit an sich in einem ganz anderen Licht betrachten lassen als die meisten anderen Wesen in Fantasy-Stoffen. Sandman hat seine zahlreichen Preise als Comic nicht umsonst gewonnen – und ist auch nie kopiert worden. Zu eigen war Neil Gaimans Serie.

Und weil Netflix sich nach etlichen misslungenen Versuchen anderer, Sandman als Film oder Serie umzusetzen, die Mithilfe von Neil Gaiman selbst gesichert hat und der Autor ein gewichtiges Wort mitsprechen durfte, werden Comic-Leser ihre Storys problemlos wiedererkennen. Die Autoren haben sich recht eng an die Vorlage gehalten und nur wenige Änderungen vorgenommen. Die allerdings wieder Netflix-typisch. Denn der Cast wurde in Sachen Geschlecht ein wenig modernisiert und der fast reine Herrenclub der Vorlage etwas femininer. So ist Jenna Colemans Figur im Original der recht bekannte John Constantine (aus „Constantine“ und „Legends of Tomorrow). Und Lucienne (Vivienne Acheampong) im Comic noch ein Lucien. Allerdings sind beide Schauspielerinnen fantastisch und somit eine sehr gute Wahl.

Jenna Coleman
Joanne Constantine ist nicht sonderlich scharf darauf, Dream zu helfen.

Hochwertige Serie voller Qualitäten

Es werden sich zwar sicher wieder selbst ernannte „Woke“-Wächter finden, die die Serie deshalb verteufeln (Apropos, Gwendolin Christies Lucifer ist im Original auch deutlich ein Mann), gern, ohne die Comics überhaupt zu kennen. Aber wem das egal ist, der bekommt mit beiden Charakteren großartige Szenen zu sehen, in denen sich die Damen sogar gegen den grandios gut gecasteten Tom Sturridge behaupten können. Seltsam ist auch, dass Netflix, das sonst gern Staffel nochmal in zwei Teile hackt („Lupin„, „Stranger Things 4„) ausgerechnet bei Sandman davon ablässt, obwohl es sich hier geradezu angeboten hätte. Denn die erste Staffel erzählt die beiden ersten Comic-Sagas und hätten sich gut in zweimal fünf Folgen teilen lassen.

Aber es ist natürlich gut für die Fans, diese richtig gute Dark-Fantasy-Horror-Staffel komplett sehen zu können. Denn Gaiman und das Team aus Produzenten und Autoren erzählen hier eine Story, die nicht nur untypische Figuren aufweist, sondern auch Erzählstrukturen nutzt, wie sie sonst in (möglichst leicht zu konsumierenden) Netflix-Serien selten auftauchen. Hier steht die Action nicht im Vordergrund, tatsächlich passiert selten etwas, dass Zuschauer mit Action in Verbindung bringen würden. So ist Dream, obwohl erstmals bei DC erschienen, kein Superheld, nicht mal ein Held im eigentlichen Sinn. Denn er ist kein Mensch und menschliche Maßstäbe an ihn anzulegen, passt selten. Mal ist er grausam, mal mitfühlend, mal gnädig, mal abweisend. Aber nie vorhersehbar.

Sandman
Der Korinther töten Menschen der Augen wegen. Kann Dream den Alptraum wieder einfangen?

Und auch die Storys von entflohenen Alpträumen, die auf einem Serienkiller-Kongress auftauchen oder einer menschlichen Anomalie, die in andere Träume eindringen kann, sind keine Geschichten von der Fantasy-Stange. Sondern oft derart originell und anders als die Masse, dass sie Aufmerksamkeit erfordern, um sie würdigen zu können. Und sich zum Wegbingen zwischen Telefonaten und Abendessen eher wenig eignen. Optisch ist das Ganze Projekt ebenfalls auf Goldrand genäht und sieht einfach umwerfend aus. Ob Traumreich, Hölle oder Mittelalter, die Sets sind zum Niederknien schön – oder schauerlich, die Dialoge oft philosophisch und kurz, die Atmosphäre erfrischend anders als die meisten anderen Fantasy-Projekte. Wer wirklich etwas Neues sehen will, kommt an Sandman nicht vorbei.

Fazit:

Mit Sandman liefert Netflix tatsächlich eine der besten Dark Fantasy-Serien seit langer Zeit. Denn nicht nur wurde Autor Neil Gaiman eng in die Planung miteinbezogen, auch das Casting ist fast perfekt gelungen. Und schließlich hatten die Macher den Mut, Gaimans Vision der Comics fast unverändert auf den Bildschirm zu bringen, statt mit eigenen Ideen die künstlerische Signatur Gaimans zu verwässern. Daher lässt sich für Sandman wirklich sagen: Wer die Serie nicht mag, sollte auch die Finger von den Comics lassen. Anspruchsvolle Fantasy-Fans, die von Vampiren und Co. langsam die Nase voll haben, können hingegen mit Sandman eine Serie sehen, die großartig aussieht und auch noch bis in die Fingerspitzen originell ist. Ein großer Wurf, dem hoffentlich noch vier Staffeln folgen.

Sandman startet am 5. August 2022 bei Netflix.

Sandman
Lucienne ist als Bibliothekarin das Gedächtnis des Traumreichs – und eine gute Beraterin für Lord Morpheus.