Daisy Edgar Jones

Filmkritik: Fresh

Nur eines ist beständig – der Wandel. Was für große Teile des Lebens wohl niemand infrage stellen würde, war bisher ausgerechnet im Unterhaltungssektor kein Thema. Denn dass Disney ausschließlich für familienfreundliche, saubere Unterhaltung steht, das galt als so sicher wie der morgendliche Sonnenaufgang. Aber alles hat ein Ende – auch diese nur scheinbar unumstößliche Regel. Zwar bewahrt Disney sein Image in der Heimat weiterhin mit Disney+, weil dort der eigene  Dienst Hulu erwachseneres Material zeigt, das Disney gehört. Aber in Deutschland startet nun in Ermangelung eines zweiten Streamingdienstes der bitterböse Psycho-Thriller „Fresh“ bei Disney+ in der Star-Rubrik. Warum das fiese Langfilm-Debüt von Regisseurin Mimi Cave so gar nicht Disney-like ist, klärt die Kritik.

Sebastian Stan in Fresh
Als Noa den charismatischen Steve kennenlernt, hat sie nach langer Zeit wieder Hoffnung, einen netten Kerl gefunden zu haben.

Die Handlung

Noa (Daisy Edgar-Jones) hat eigentlich die Nase voll von Dates. Denn seit längerer Zeit erweist sich jede Verabredung mit einem Kerl als Griff ins Klo. Da läuft ihr ausgerechnet beim Einkaufen Steve (Sebastian Stan) über den Weg, der sie zwar auch mit einem reichlich blöden Spruch anspricht, diesen aber auch gleich wieder einkassiert. Diese Ehrlichkeit macht auf Noa einen zumindest so guten  Eindruck, dass sie sich auf ein Date mit ihm einlässt. Und das läuft anders ab, als Noa befürchtet hat. Steve interessiert sich offenbar ehrlich für sie, fragt nach ihrer Vergangenheit, ihrer Familie und ihren Freunden. Ohne es so richtig geplant zu haben, landen Noa und Steve schließlich in ihrer Wohnung im Bett.

Auch die folgenden Wochen lassen Noa ihren Entschluss nicht bereuen. Steve ist freundlich und zuvorkommend, plant schließlich sogar ein gemeinsames Wochenende auf dem Land. Obwohl ihre Freundin Mollie (Jonica T. Gibbs) Bedenken hat, lässt Noa sich darauf ein, mit ihrer neuen Liebe ein Abenteuer zu erleben, bei dem sie die Kontrolle möglicherweise abgeben muss. Doch als sie am nächsten Morgen angekettet in einer Art Verlies erwacht und Steve ihr nicht unfreundlich erklärt, was sie zu erwarten hat, sieht sie ihre schlimmsten Alpträume noch übertroffen. Denn Steves körperliche Gelüste sind gänzlich anders gelagert, als Noa geglaubt hat …

Böse Story in frischem Gewand

Mimi Cave, die Regisseurin von Fresh, hat vor ihrem ersten langen Spielfilm viele Kurzfilme und Musik-Videos gedreht. Und das sieht man ihrem Debüt auch an. Denn sie macht dem Namen ihres Films alle Ehre und erzählt viele Momente der Story mit frischen Ideen, die so nicht oft in Spielfilmen zu sehen sind. So inszeniert sie immer wieder wichtige Szenen nicht chronologisch, sondern springt in kurzen Schnitten einige Sekunden oder Minuten vor, um dann von dem Punkt, an dem sie die Handlung verlassen hat weiterzuerzählen. Das zwingt den Zuschauer geschickt dazu, sich auf die Handlung zu konzentrieren, um nichts zu verpassen. Zusätzlich lässt Cave hin und wieder einen Monolog einfach weiterlaufen, obwohl die Szene dazu optisch längst beendet ist.

Allerdings übertreibt es Cave ab und zu auch mit der Wahl der Mittel. So schießt sie in einer eigentlich extrem starken Szene von Sebastian Stan ein wenig übers Ziel hinaus, wenn sie dessen erstmalig gezeigte Profession in Musicvideo-Ästhetik hüllt. Das nimmt dem Film, wie auch einige kleine Drehbuch-Entscheidungen, ein wenig von seiner Härte, die Fresh zweifelsohne auf der psychologischen Ebene kiloweise mitbringt. Zwar zeigt Fresh auch wenige etwas blutigere Szenen, aber optisch hält sich der Film angesichts seines Themas doch sehr zurück. Was das Kopfkino betrifft, sieht die Sache allerdings ganz anders aus. Wer sich in Noa hineinversetzt, dem verpasst der Film nach gut 30 Minuten einen derben Schlag in die Magengrube. Und so viel kann man verraten: Es wird nicht der letzte sein …

Sebastian Stan
Doch noch ein paar Wochen Beziehung zeigt der freundliche Steve plötzlich eine ganz andere Seite von sich.

Psychopath mit Charme

Denn Drehbuchautorin Lauryn Kahn, die bislang eher im Komödienbereich aktiv war („Stiefbrüder“, „Die etwas anderen Cops“) tischt dem Zuschauer mit Fresh zwar keine perfekte, aber eine doch sehr clevere und abgrundtief böse Geschichte auf, die mit etwas mehr Vertrauen in die eigene Idee noch besser hätte sein können. Offenbar hatte jemand hinter den Kulissen die fixe Idee, dass das Böse im Film noch einen Hintergrund bräuchte und zeigt eher halbherzig und nicht für jeden offensichtlich einen Erklärungsversuch für das, was man zu sehen bekommt. Das verwässert allerdings die Grundidee und lässt den Zuschauer eher mit einem Schulterzucken als mit wirklichem Grauen zurück. Und auch das im Vergleich zum Rest des Films eher konventionelle Finale enttäuscht nach furiosem Start ein wenig.

Dass Fresh aber dennoch als feiner Beitrag zum Horrormenü 2022 gelten darf, daran hat Sebastian Stan nicht unerheblichen Anteil. Der rumänisch-stämmige Schauspieler achtet seit Jahren bei seiner Rollenauswahl darauf, möglichst immer wieder kontroverse Charaktere zu verkörpern, um nicht auf Bucky Barnes aus dem MCU festgelegt zu werden. Und das gelingt ihm mit der Darstellung eines charmanten und doch unfassbar kalten Psychopathen eindeutig. Er spielt das Menschen-Monster mit einer Präsenz, dass selbst dem Zuschauer im sicheren Wohnzimmer bisweilen ein unangenehmes Gefühl packt. Und Mann froh ist, keine junge Frau und nicht in der Nähe dieses Charakters zu sein.

Fresh
Während Mollie sich langsam Sorgen um ihre Freundin macht …

Stan, die ebenfalls stark aufspielende Daisy Edgar-Jones und die böse Grundidee von Fresh würden schon zu einem tollen Film reichen. Aber Kahn hat noch einen Pfeil im Köcher, den sie treffsicher abschießt. Denn mit der selten agierenden, aber doch hochkomplexen Ann (Charlotte Le Bon) führt sie einen weiteren Charakter ein, deren Ambivalenz für ein Gefühlschaos aus Abscheu und Mitleid sorgt. Und die Lesart dieser unstrittig feministischen Story um einen interessanten Aspekt erweitert. Eine eigentlich harmlose Szene im Bad sorgt so für einen weiteren emotionalen Niederschlag. Dabei wirkt kein einziger der harten Twists im Film unglaubwürdig oder aufgesetzt. So makaber und bösartig sie sein mag, so stimmig und glaubhaft ist die Story. Großes Kino im TV – aber wohl zu abseitig für den Massengeschmack.

Fazit:

Mimi Cave ist mit Fresh nicht nur ein interessanter neuer Ansatz gelungen, Frauen als Objekte zu thematisieren. Sie hat mit ihren vor allem psychisch beinharten Thriller auch ein echtes Monster geschaffen, dem Sebastian Stan mit einer großartigen Leistung Leben einhaucht. Ebenso sehenswert gibt Daisy Edgar-Jones das wehrhafte Opfer, mit dem der Zuschauer mitfiebert und manchmal auch extrem mitleidet. Leider verwässert das Drehbuch den radikalen Ansatz der Grundidee mit halbgaren Erklärungsversuchen, die nicht nur einiges von der emotionalen Wucht herausnehmen, sondern auch komplett unnötig sind. Dennoch ist dieser weitgehend in der eigenen Phantasie ablaufende Horrortrip einer der bisher besten in diesem Jahr. Genre-Fans müssen Disney+ langsam wirklich auf dem Zettel haben.

Fresh startet am 14. April 2022 bei Disney+.

Daisy Edgar Jones und Sebastian Stan tanzen
… kämpft Noa mit ungewöhnlichen Mitteln um ihr Leben.