Einen der größten Erfolge in den vergangenen Jahren feierte Sandra Bullock bei Netflix – als Star des Films „Bird Box – Schließe Deine Augen„. Der Sci-Fi-Thriller gehört noch immer zu den meistgesehenen Eigenproduktionen. Kein Wunder also, dass der mittlerweile 57-jährige, deutschstämmige Star gern wieder mit dem Streamingdienst zusammenarbeitet. Zumal es für „The Unforgivable“ gleiche mehrere gute Gründe gibt. Einer liegt bei der Regie. Denn Nora Fingscheidt, die mit diesem Projekt erst ihren zweiten langen Spielfilm umsetzte, debütierte mit dem vielfach preisgekrönten „Systemsprenger“ und machte sich damit auch außerhalb Deutschlands einen Namen. Bewahrt sie mit The Unforgivable ihren guten Ruf? Das klärt die Kritik.
Die Handlung
Ruth Slater (Sandra Bullock) wurde wegen des Mordes an einem Polizisten zu 20 Jahren Haft verurteilt, wird wegen guter Führung aber nach 15 Jahren entlassen. Ihr Bewährungshelfer Vincent (Rob Morgan) hat ihr einen Platz in einem Wohnheim für straffällig gewordene Frauen besorgt. Und Arbeit in einem Baubetrieb, die sie aber aufgrund ihrer Straftat aber gleich wieder verliert. So muss sich Ruth mit einem Job begnügen, bei dem sie den ganzen Tag Fische putzt und filetiert – und ihren Kollegen Blake (Jon Bernthal) auf Abstand halten muss, der an ihr interessiert ist. Doch all das scheint Ruth letztlich egal, sie verfolgt ein ganz anderes Ziel mit unnachgiebiger Zielstrebigkeit. Ihre damals fünfjährige Schwester Katie wurde zur Adoption freigegeben und Ruth möchte wissen, wo sie ist.
Als sie auf Spurensuche ihr altes Wohnhaus beobachtet und die neue Besitzerin Liz (Viola Davis) auf die Frau im Vorgarten aufmerksam wird, schickt sie ihren Mann John (Vincent D’Onofrio) hinaus und Ruth kommt mit ihm ins Gespräch. Als sie hört, dass John Anwalt ist, bittet sie ihn um Hilfe bei der Suche nach Katie. Was der nach einigem Zögern auch zusagt. Doch es geht eher schleppend voran, nachdem John Ruths Vorgeschichte herausgefunden hat und von seiner neuen Klientin wenig begeistert ist. Zudem haben die Söhne des ermordeten Cops, die noch immer in der Stadt leben, mit dem Tod ihres Vaters nicht abgeschlossen und planen, Ruth für ihre Tat büßen zu lassen – auf die schlimmste mögliche Art …
Starke Besetzung
War es die Regisseurin oder der Stoff, der die Hollywood-Stars gleich scharenweise zu diesem Projekt trieben? Das bleibt unklar, fest steht hingegen, dass die Besetzungsliste von The Unforgivable auch für einen Kino-Blockbuster locker ausgereicht hätte. Bullock, Bernthal, Davis, D’Onofrio, dazu noch Richard Thomas (John-Boy) – das kann sich mehr als sehen lassen. Auch die Story ist bereits erfolgsgeprüft, The Unforgivable ist die Neuverfilmung einer britischen Mini-Serie aus dem Jahr 2009, die als beste Serie ausgezeichnet wurde. Eine Menge Erfolgsgaranten also, die die Hamburger Regisseurin Nora Fingscheidt für ihre erste internationale Arbeit da zur Verfügung hatte. Und die hat sie auch genutzt.
Da wäre zunächst Sandras Bullock. Komplett ungeschminkt, mit wirren Haaren und Verlauf des Films durchaus sichtbaren Spuren in ihrem Gesicht, dass die Gesellschaft sie noch längst nicht rehabilitiert hat, spielt sie die Rolle der Ruth extrem uneitel. Und auch ganz schön hart. Als sie eine Mitbewohnerin beim Klauen erwischt, schreckt sie vor körperlicher Gewalt nicht zurück – und die nimmt ihr der Zuschauer jederzeit ab. Spannender als das ist aber die Aura der Akzeptanz, die Bullock als Ruth ausstrahlt. Ihre Klarheit darüber, dass ihr der Mord an einem Polizisten ihr Leben lang anhaften wird, auch außerhalb des Gefängnisses, und der daraus entstehende stumme, fast stoische Umgang der Figur mit der allgegenwärtigen Ablehnung, das spielt Bullock absolut umwerfend.
Emotionale Achterbahn
Der Rest des Casts glänzt mit kurzen Auftritten, da alle anderen Rollen im Vergleich zu Bullocks Part recht klein ausfallen. Dennoch hat jeder die eine Szene, die den Charakter glänzen lässt. Viola Davis darf sogar den großen Twist des Films auslösen, der allerdings ein wenig mehr Erklärung vertragen hätte. Denn die Motivation der Hauptfigur, das zu tun, was sie getan hat, bleibt angesichts der Folgen doch ein wenig unklar. Was der Spannung des Films allerdings keinen Abbruch tut. Denn Bullock gelingt es, der eigentlich sperrigen Figur der Ruth so viel Sympathie zu verleihen, dass der Zuschauer bald auf ihrer Seite steht. Und sich somit auch mit vielen Hindernissen herumschlägt, die Ruth in den Weg gelegt werden. Angesichts der vielen Gefahren, die der Film in kurzer Zeit aufbaut, gibt es genug Gründe, um sie zu fürchten.
Tatsächlich gab es lange keinen Film, bei dem sich das Publikum schon nach wenigen Minuten so sicher war, dass es für die Protagonistin angesichts ihrer Situation kein gutes Ende nehmen wird. Fingscheidts Film strahlt ähnlich wie Systemsprenger in kleinen Momenten immer wieder Hoffnung aus, nur um die schnell wieder mit einer besonders üblen Szene einzukassieren. So jagt The Unforgivable sein Publikum über die gesamte Laufzeit des Films durch ein Wechselbad der Gefühle. Was auch am klugen Drehbuch liegt, das die Handlung immer wieder in Richtungen abbiegen lässt, die man so nicht kommen sieht. So entwickeln sich Dinge, die man nach 15 Minuten als gegeben hinnimmt, nicht so, wie erwartet.
Nähe statt Abstand
Ein Erfolgsrezept von Systemsprenger wiederholt Fingscheidt mit The Unforgivable allerdings nicht. Ihr erster Film lebte vor allem vom Dokumentar-Stil, in dem die Geschichte von Benni erzählt wird. Und zieht seine tiefe Emotionalität auch aus dem Abstand, den der Zuschauer stets zu ihr wahrt. An Sandra Bullock hingegen wagt sich Fingscheidt nicht nur mit der Kamera heran, auch ihr Innenleben durchleuchtet die Regisseurin mit deutlich mehr Stilmitteln wie kreiselnde Nahaufnahmen oder schluchzenden Geigen als Soundtrack (von Hans Zimmer). Hier zeigt sich der Unterschied zwischen einer deutschen und einer Hollywood-Produktion deutlich. Was schade ist, da die starke Story gepaart mit tollen Darstellern auch ohne inszenatorische Hinweise, dass es gleich traurig oder rührend wird, gut funktioniert hätte.
Fazit:
Mit The Unforgivable gelingt der Hamburger Regisseurin Nora Fingscheidt ein starkes Debüt auf internationaler Bühne. Das edel besetzte Drama um Schuld und Sühne punktet nicht nur mit einer tollen Sandra Bullock, sondern auch mit einer durchdachten und fesselnden Story. Die ist zwar nicht immer komplett nachvollziehbar, lässt aber die Charaktere wie an der Schnur gezogen zielsicher aufeinander zu rasen. Um dann doch im letzten Moment einen Haken zu schlagen. Wer es mag, sich von einem Film emotional berühren zu lassen, der sollte den Kampf von Ruth Slater um den letzten Rest ihrer Familie und ein lebenswertes Leben jedenfalls nicht verpassen. Großes Kino bei Netflix!
The Unforgivable startet am 10. Dezember bei Netflix.