Matt Damon
Focus Features

Filmkritik: Stillwater

Wenn sie ein Autor und Regisseur von wahren Ereignissen zu einer Geschichte inspirieren lässt, dann muss er möglicherweise mit Gegenwind derjenigen rechnen, die in diese wahre Geschichte involviert sind. Und so war die Reaktion von Amanda Knox, deren Geschichte als Hauptverdächtige eines Mordes in Italien um die Welt ging, wenig freundlich. Sie wirft „Stillwater“ vor, ihre Story zu verdrehen und sie schlechter dastehen zu lassen, als es der Realität entspricht. Ein Statement, das allerdings über die Qualität des Films wenig aussagt. Wie gut der wirklich ist und warum der Fall Amanda Knox gar keine so große Rolle spielt, verrät die Kritik.

Stillwater
Bill ist wieder einmal in Marseille, um seine Tochter im Gefängnis zu besuchen.

Die Handlung

Bill Baker (Matt Damon) arbeitet meist auf Ölplattformen, um seine Brötchen zu verdienen. Aber wann immer er genug Geld beisammen hat, fliegt er von Stillwater, seiner Heimatgemeinde in Oklahoma,  nach Marseille in Frankreich. Denn dort sitzt seit fünf Jahren seine Tochter Allison (Abigail Breslin) wegen eines Kapitalverbrechens in Haft. Sie soll an der Ermordung ihrer damaligen Freundin beteiligt gewesen sein, streitet aber bis heute die Tat ab. Diesmal bittet sie ihren Vater bei seinem Besuch, ihrer Anwältin einen Brief zu überbringen, der nach ihrer Meinung neue Spuren enthält, die zum wahren Killer führen könnten. Da der Brief auf Französisch geschrieben ist, versteht Bill allerdings den genauen Inhalt nicht.

Die Anwältin will nach Ansicht des Schriftstückes jedoch nichts unternehmen. Und so fragt Bill seine Nachbarin im Hotel, eine Französin namens Virginie (Camille Cottin), die eine kleine Tochter namens Maja hat, nach einer Übersetzung. Daraus geht hervor, dass Allison nicht glaubt, ihr Vater könne ihr irgendeine Hilfe sein. Gekränkt und doch von dem Ziel besessen, seiner Tochter zu helfen, macht sich Bill selbst auf die Suche nach dem neuen Verdächtigen, von dem Allison über eine Frau im Gefängnis erfahren hat. Aber ohne Sprach- und Ortskenntnisse hat Bill nur wenig Chancen. Deshalb bittet er erneut Virginie um Hilfe …

Großartiger Matt Damon

Regisseur und Co-Autor Tom McCarthy (zwei Oscars für „Spotlight“ 2015, bester Film, bestes Drehbuch) inszeniert Stillwater als zwei Filme in einem. Die erste und die letzte halbe Stunde des Films stehen weitgehend im Zeichen der Krimihandlung. Die Zeit dazwischen zeichnet McCarthy eine Charakterstudie seines wortkargen Helden. Matt Damon nutzt wiederum diese Tatsache, um seine beste schauspielerische Leistung seit Jahren auf die Leinwand zu bringen. So lässt sich kaum sagen, was an diesem Film fesselnder ist: die lange unterbrochene Jagd nach dem möglichen Killer oder die Entwicklung eines bildungsfernen Arbeiters aus dem Mittelwesten, der kaum je in seinem Leben über seinen flachen Tellerrand hinausgeblickt hat.

Dass dieser Umstand im Süden Frankreichs oftmals fast zu einem Kulturschock führt, hat ebenso komödiantische wie tragische Seiten. Je nachdem, auf welche Art Menschen Bill trifft. Damon übermittelt fast ohne gesprochenes Wort das Bild eines Mannes, dessen einziger Halt in der Welt seine Tochter ist, für die er deshalb alles zu tun bereit ist. Schnell wird aber klar, dass er dennoch kein sonderlich guter Vater gewesen sein kann. Aufmerksame Zuschauer können Damons Bill fast dabei zusehen, wie er im Lauf der Monate in Frankreich Stillwater, Oklahoma immer mehr aus seinem Organismus herausspült. Und Stück für Stück seine Sicht auf die Welt und sich selbst dadurch verändert wird.

Abigail Breslin
Obwohl er Allison regelmäßig besucht, haben die beiden noch immer ein schwieriges Verhältnis.

Zwei Teile, die schwer zusammenfinden

Eine große Hilfe dabei sind ihm dabei Virginie und Tochter Maya. Das Zusammenspiel der drei Darsteller ist das Highlight des Films und öffnet die Herzen der Zuschauer erst wirklich für die Figur des Bill. Denn die sich zart anbahnende Liebesgeschichte gönnt man dem schweigsamen Mann von Minute zu Minute mehr. Wenn dann seine Tochter Allison endlich einen Tag Freigang erhält und er seine alte Familie seiner neuen vorstellen kann, freut sich wohl jeder Zuschauer mit Bill und hat Verständnis für den stillen Stolz, den Damon in diesen Szenen ausstrahlt. Und man wünscht ihm, das kleine Glück möge von Dauer sein.

Wenn Stillwater eine Schwäche hat, dann ist es die Zerrissenheit der beiden Plots, die sich nur selten im Film richtig begegnen und auch nie wirklich zu einer Einheit verschmelzen. Zudem ist die Pause zwischen Beginn der Krimihandlung und der Wideraufnahme des Plots mehr als eine Stunde später doch arg lang. Und kostet den Film nicht nur Spannung. An manches kann sich das Publikum vielleicht gar nicht mehr genau erinnern, wenn der Faden endlich wieder aufgenommen wird. Hier muss sich McCarthy zumindest unglückliches Timing vorwerfen lassen. Ohnehin lässt sich der Regisseur viel Zeit, um seine Geschichten zu erzählen und entschleunigt quasi sein Publikum zeitgleich mit Bill – nicht jedem im Publikum wird das gefallen.

Ruhig erzählt

Stillwater
Durch einen Zufall lernt Bill die Französin Virginie kennen, die ihm bei seinen Nachforschungen hilft.

Auch inszenatorisch hält sich McCarthy zurück und verzichtet auf besondere Kamerafahrten oder andere Tricks, um seine Story aufzuwerten. Stattdessen setzt er ganz auf seine Schauspieler, die ihre Emotionen oft durch Blicke und kleine Gesten vermitteln und so Charaktere zum Leben erwecken, ohne viel an Erklärungen abgeben zu müssen, was der Zuschauer hier eigentlich genau sieht. Die danken McCarthy dieses Vertrauen mit starken Leistungen, die ein kinoaffines Publikum auch zu schätzen wissen wird. Und: Die Ähnlichkeiten zum realen Fall von Amandas Knox sind zwar da, aber Stillwater fühlt sich zu keinem Zeitpunkt wie eine genaue Umsetzung oder gar Wertung des damaligen Falles an.

Fazit:

In seinem etwas zu langen Krimidrama-Charakterstudien-Mix Stillwater setzt Regisseur und Co-Autor Tom McCarthy ganz auf seine Darsteller – und die danken ihm das Vertrauen mit durchgehend starken Leistungen vor der Kamera. Besonders eine Oscar-Nominierung für Matt Damon wäre keine Überraschung. Obwohl die beiden Story-Hälften – die Charakterstudie von Bill und der Krimi-Plot, nie wirklich Hand in Hand gehen und sich gegenseitig zum Teil ausbremsen, gelingt McCarthy die präzise Skizzierung eines typischen US-Amerikaners mit bildungsfernem Hintergrund. Dass er dabei den Fall der Amanda Knox als Inspiration nutzte, kann man ihm vorwerfen. Als echten Kommentar zum damaligen Fall lässt sich der Film dennoch kaum lesen.

Stillwater startet am 9. September 2021 in den deutschen Kinos.

Stillwater
Bald muss Bill feststellen, wie hoch der Preis dafür, seiner Tochter zu helfen, tatsächlich ist.