Lange haben die Fans warten müssen! Nach dem vorläufigen Ende von „Sherlock“ ließen sich die beiden Masterminds dahinter viel Zeit, bis sie mit einem neuen Projekt an die Öffentlichkeit gingen. Nun haben Steven Moffat und Mark Gatiss ihre Version des unsterblichen Vampires „Dracula“ im Kasten. Und Netflix strahlt die dreiteilige, erste Staffel nur einen Tag nach der BBC aus. Können die beiden Autoren auch im Horror-Sektor an ihre Erfolge anknüpfen? Oder ist der Graf aus Transsylvanien blutleerer als sonst?
Er ist nicht der erste Vampir der Literatur, aber er ist mit Abstand der bekannteste. Als der irische Schriftsteller Bram Stoker seine Version der alten Volkslegenden vom bluttrinkenden Wiedergänger veröffentlichte, wurde der Briefroman zuerst wenig geschätzt – und Stoker starb 1912 völlig verarmt. Aber mit den ersten Filmen über den untoten Grafen stieg seine Popularität extrem. Und heute gilt Dracula als Inbegriff des Blutsaugers, der zwar menschlich aussieht, aber ein mordendes Monster ist. Was haben die Sherlock-Macher mit dieser Vorgabe angestellt?
Dracula: Die Handlung
Ende des 19. Jahrhunderts. Der Londoner Anwalt Jonathan Harker (John Heffernan) reist in einen entlegenen Winkel Transsylvaniens, wo er einen Grafen namens Dracula (Claes Bang) treffen soll, der in England mehrere Güter erworben hat. Eigentlich will Harker nur eine Nacht bleiben, doch der sehr alte Graf will davon nichts wissen. Mindestens einen Monat soll Harker auf der Burg verweilen und dem Grafen alles über die englische Kultur beibringen. Dieser Transfer läuft allerdings anders, als Harker das erwartet hätte, denn Dracula scheint täglich jünger zu werden …
Dann findet sich Harker in einem Kloster in Budapest wieder, ohne Erinnerung, wie er dorthin gelangt ist. Und wird von einer Nonne namens Agatha (Dolly Wells) akribisch über seinen Aufenthalt in Draculas Schloss befragt. Im Verlauf dieses Gesprächs fallen Harker immer mehr Details ein, die er bislang aus gutem Grund verdrängt hatte. Offenbar ist Dracula kein Mensch mehr, sondern eine Kreatur der Nacht, die sich vom Blut der Lebenden ernährt. Aber darüber weiß die seltsame Nonne offenbar bereits sehr gut Bescheid …
Dracula: Horror – Sherlock-Style
Als Steven Moffat und Mark Gatiss nach dem Ende der vierten Sherlock-Staffel eine lange Serien-Pause verkündeten (dazu gibt es auch bis heute nichts Neues), fragten sich die Fans gespannt, was die beiden wohl als nächstes planen würden. Mitte 2017 verrieten sie dann, dass sie sich nach Sherlock Holmes einer weiteren großen Figur der britischen Literatur widmen würden – Dracula. Nun war die Frage, ob das Duo dem blutrünstigen Grafen eine ähnliche Frischzellenkur verpasst haben wie dem unsterblichen Detektiv. Die Antwort: Sie haben!
Zwar folgen sie grob der Romanvorlage, die ebenfalls mit der Ankunft Harkers im Schloss Dracula beginnt. Doch wie auch bei Sherlock haben sie hier viele Aspekte der Figur bearbeitet, um ihren ganz eigenen Blutsauger aus den Vorgaben von Bram Stoker zu erschaffen. Und obwohl die Moffat/Gatiss-Version des Stoffes der Story weit weniger genau folgt als der bisher als authentischste Verfilmung geltende Film von Francis Ford Coppola von 1992, so ist der neue Graf Dracula doch so dicht am Kern der Figur als kultiviertes Monster wie niemand vorher.
Dracula: Der neue Hannibal
Moffat und Gatiss machen aus Dracula eine Art Hannibal Lecter. Einen intelligenten Massenmörder, der gern mit seinem Essen spielt und keinerlei moralische Bedenken hat, jemanden umzubringen. Der Däne Claes Bang spielt diesen Dracula als Monster, dass sich seiner Natur bewusst ist und sie mit allen Sinnen umarmt, absolut grandios. In geschliffenen Dialogen macht er sich mal sanft über seine zukünftigen Opfer lustig. Mal fungiert er als Killer und Trostspender in Personalunion. Eines ist er aber immer: gnadenlos tödlich.
Die beiden Autoren führen Dracula so zurück zu seinen Ursprüngen als sinnliche und mit starker erotischer Ausstrahlung bedachte Kreatur, die weder aus Liebe zum Vampir wurde, noch Seelenqualen deswegen leidet. Auch wenn die Entstehung Draculas in der Serie noch im Dunkeln bleibt, so ist doch klar: Dracula steht hier für einen harten Hedonismus, gepaart mit kluger Taktik und absoluter Grausamkeit, wenn sie denn zweckdienlich ist. Dieser Vampir glänzt nicht in der Sonne und hat kein Gewissen. Moffat und Gatiss waren an der Faszination des Bösen interessiert, nicht an Fantasy-Sensibelchen.
So clever wie immer
Steven Moffat nahm sich bereits 2007 einen britischen Horror-Klassiker vor und überführte Robert Louis Stevensons „Jekyll“ mit großartigen neuen Ideen als Mini-Serie in die Moderne. Dabei stellte er clevere Fragen und fand traumhaft sicher die spannendsten Ungereimtheiten der Vorlage, um daraus eine extrem packende Story zu stricken. Auch in Dracula gelingt das wieder. Warum hat der Vampir Angst vor Kreuzen, obwohl der Vampirismus gar nichts mit der christlichen Religion zu tun hat? Wieso funktionieren bestimmte Abwehrmöglichkeiten, obwohl sie komplett unlogisch sind?
Das fragt sich nicht nur Schwester Agatha, sondern auch bald der Zuschauer. Denn die neue Serie jongliert clever mit diesen Ideen. Und beantwortet sie auf ebenso originelle wie zweifelhafte Weise. Denn darf man den Aussagen eines Vampirs wirklich trauen? Wie schon in Sherlock spielen Gatiss und Moffat auch in ihrer neuen Serie wieder sehr gekonnt mit den Unterschieden zwischen objektiver und subjektiver Sichtweise. Was hat der Zuschauer wirklich gesehen? Und was glaubt er nur zu wissen, irrt sich aber gewaltig?
So blutig wie nie
Horror muss in den Augen von Mark Gatiss und Steven Moffat offenkundig blutig sein, zumindest wenn ein Vampir die Hauptrolle spielt. Denn für eine BBC-Serie, die dort um 21:00 Ortszeit gezeigt wird, sind die Episoden der ersten Staffel recht brutal. Wer kein Horrorfan ist und die Serie nur sehen will, weil sie von den Sherlock-Machern ist, muss sich auf ungewohnt harte Kost einstellen. Für Horrorfans bietet Dracula optisch dafür umso mehr von dem, was diese Zielgruppe sehen möchte. Die dürfte dafür mit der eigenwilligen Interpretation der Story ihre Probleme haben.
Denn die beiden britischen Star-Autoren beginnen zwar halbwegs konform zum Roman, lassen aber innerhalb ihrer drei 90-minütigen Folgen kaum einen Stein der Geschichte auf dem anderen. Sondern interpretieren die Story vom Untoten radikal neu. Das ist intellektuell erwartungsgemäß durchaus anspruchsvoll und interessant, wird aber unter Garantie nicht jedem gefallen. Schon gar nicht denjenigen, die den Roman von Stoker lieben. Und bisher noch immer auf eine wirklich stimmige Verfilmung dieser Story warten. Auch die neue Version von Dracula ist das nicht.
Zwar kommen so gut wie alle wichtigen Figuren Stokers auch in der Serie vor, außer Dracula selbst ist aber kaum eine auf Anhieb zu erkennen. Und auch die Grundstory des Buches ist zwar mit ein wenig guten Willen noch zu erkennen, von einer halbwegs getreuen Umsetzung des Stoffes kann aber keine Rede sein. So dürfte Dracula den Erfolg von Sherlock nicht wiederholen können. Schon gar nicht in Deutschland, wo bereits Sherlock für den durchschnittlichen Tatort-Zuschauer zu schräg war. Mutig, phantasievoll und großartige geschrieben ist es dennoch.
Fazit:
Die Dracula-Version der Sherlock-Macher Mark Gatiss und Steven Moffat platzt vor neuen Ideen und spielt virtuos mit den Vorgaben aus dem Roman. Allerdings nehmen sich die Autoren viele Freiheiten und ändern die Original-Story in fast allen Belangen gründlich. Literatur-Puristen sind hier daher ebenso falsch, wie sie es bei Sherlock waren. Wer sich aber auf das virtuos geschriebene und tolle gespielte, wenn auch radikal andere Serien-Experiment einlassen kann, wird viel Freude an dieser Variation des unsterblichen Grafen haben.
Dracula startet am 4. Januar 2020 bei Netflix.
Gesehen: Drei von drei Episoden