Kurt Wallander gehört zu den großen modernen Ermittlern der Literatur. Bis zu seinem Tod schuf der schwedische Autor Henning Mankell ein knappes Dutzend Romane mit seinem Kommissar, allerdings war der stets im gleichen Alter wie sein Schöpfer. Was Kurt Wallander zu Beginn seiner Karriere als Polizist alles erlebt hat, darüber schweigen sich die Bücher weitgehend aus. Diese Lücke will jetzt „Der junge Wallander“ schließen, eine schwedische Serie, die jetzt bei Netflix läuft. Wie gut ist sie?
Düstere Fälle, tiefe Blicke in die Abgründe der menschlichen Seele und die kranken Triebe der Gesellschaft – das waren Mankells bevorzugte Themen, mit denen er seinen melancholischen Ermittler konfrontierte. Bevor der Autor 2015 starb, hatte er bereits etliche Verfilmungen seiner Figur miterlebt, die neue Herangehensweise ist jedoch neu. Ob Mankell selbst das gefallen hätte, lässt sich nur schützen, denn der junge Wallander hat mit seinem älteren Selbst aus den Büchern noch nicht viel gemeinsam. Ist die Serie dennoch sehenswert?
Der junge Wallander: Die Handlung
Der junge Kurt Wallander (Adam Pallson) ist Streifenpolizist in Malmö, aber gemeinsam mit seinem besten Freund Reza (Yasen Atour) träumt er von einer Karriere als Detective bei der Mordkommision. Als Kurt, der in einem verrufenen Viertel lebt, nachts von einem Feueralarm geweckt wird, sieht er nach dem Rechten. Und muss einen grausamen Mord an einem schwedischen Jungen miterleben. Vom Tatort sieht er einen arabisch aussehenden Mann fliehen – also ein Hassverbrechen? Kurt ist sich trotz der Faktenlage nicht sicher und beginnt zu recherchieren.
Damit fällt er Superintendant Hemberg (Richard Dillane) auf, der ihn zur Mordermittlung holt, obwohl Reza eigentlich schon befördert war. Doch weil er sich im Viertel auskennt und die Leute mit ihm sprechen, bekommt Wallander nun den Job, obwohl er alles versucht, um Reza seine Beförderung zu lassen. Und es kommt noch schlimmer: Weil Kurt einen Fehler macht, den Reza bezahlen muss, verbeißt sich der junge Cop immer mehr in den Fall, bei dem er auch die hübsche Mona (Ellise Chappell) kennenlernt – und eine superreiche Familie …
Der junge Wallander: Mal nah dran, mal weit weg
Mankell-Puristen dürften mit dem neuen, jungen Wallander ihre Schwierigkeiten haben. Denn die Serienmacher haben Wallanders junge Jahre aus den 70ern (der Charakter ist 1948 geboren) in die heutige Zeit verlegt, achten also nicht auf Kontinuität oder zeitliche Nähe zu den Romanen. Und auch der Charakter selbst ähnelt dem bekannten Mittfünziger nur vage. Zwar lassen sich einige Eigenschaften erkennen, wie etwa Wallanders Unvermögen, einen Fall ohne Emotionen zu bearbeiten. Aber andere Dinge fehlen deutlich.
Beispielsweise ist der junge Kurt ein sehr ruhiger Zeitgenosse, der zwar auch schon seinem Sinn für Gerechtigkeit folgt, dabei aber weniger überlegt vorgeht als der alte Wallander. Damit muss der Zuschauer leben, wenn er sich Der junge Wallander ansehen möchte. Wesentlich näher am Original ist die Serie denn auch bei ihren Themen, die allesamt aus der feder von Mankell stammen könnten. Der düstere Plot um einen vermeintlichen Mord aus rassistischen Motiven, der aber etwas ganz anderes verschleiert, ist eines Mankell-Falles durchaus würdig.
Ein charismatischer Wallander
Wie so oft muss Wallander während der Ermittlungen einiges einstecken und gerät selbst in Gefahr. Und wie in vielen Büchern ist es den Serienmachern auch hier gelungen, eine wahre Bestie in Menschengestalt zu erschaffen, hinter der Wallander her ist. Fans düsterer Skandinavien-Krimis kommen hier also definitiv auf ihre Kosten. Der junge Wallander geht aber auch deshalb aufs Gemüt, weil Adam Pallson den zutiefst guten und aufrichtigen Charakter mit so viel Herz spielt, dass jede Enttäuschung, die er erlebt, auch dem Publikum nahe geht.
Lediglich einige Nebenplots, wie die Geschichte eines Nachbarjungen, trüben den sonst guten Gesamteindruck ein wenig. Denn hier nutzt die Serie schlicht zu viele Klischees, um schnell eine Situation zu entwerfen, mit der der Zuschauer etwas anfangen kann – auf Kosten der Glaubwürdigkeit und der Tiefe der Charaktere. Dafür sind besonders die knorrigen Kollegen Wallanders gut gelungen und heimsen trotz ihrer scheinbar kühlen Art immer wieder Sympathien ein. Auch hier punktet die Serie durch die ständige Bedrohung, der die beamten ausgesetzt sind.
In fast jeder Szene muss man befürchten, dass Kurt Wallander oder einer seiner Kollegen etwas abkriegt oder sogar stirbt. Je länger die Story läuft, desto klarer wird, mit welchen Mächten sich die Cops angelegt haben – und wie schlecht ihre Chancen stehen. Dann atmet die Story ein wenig von Stig Larssen erstem Roman „Verblendung“, dem die Autoren hier durchaus ihren Tribut zollen. Eine simple Kopie des ersten Lisbeth Salander-Romans ist die Serie aber keineswegs. Zudem ist die Serie mit sechs Folgen auch zügig erzählt und hat keine Längen.
Fazit:
Der junge Wallander ist gehobene Krimi-Unterhaltung für alle, die den kühlen, skandinavischen Thrillern etwas abgewinnen können. Der tolle Adam Pallson spielt einen dem Publikum bislang unbekannten, jungen Ermittler Kurt Wallander als eigenständige neue Figur stark und erkämpft sich so seine Daseinsberechtigung als neue Variante des bekannten Kommissars. Die düstere Atmosphäre der Mankell-Geschichten haben die Serienmacher ebenfalls gut getroffen. Mit dem klassischen Sonntagabend-ZDF-Krimi kann die Serie so trotz kleiner Schwächen locker mithalten.
Der junge Wallander startet am 3. September 2020 bei Netflix.
Gesehen: Sechs von sechs Folgen.