Oxygen

Filmkritik: Oxygen

Mit „High Tension“ gehörte Alexandre Aja zu den Begründern der französischen Härte, einer kleine Reihe von nur vier Filmen, die Anfang des Jahrtausends erschienen und ihre Geschichten derart blutig und grausam erzählten, dass sie bis heute in Horrorkreisen Kult-Status besitzen. Mit dem Remake von „The Hills Have Eyes“ legte Aja in seiner ersten US-Produktion nicht minder blutig nach, auch in „Mirrors“ und „Piranha 3D“ ging es derbe zur Sache. Ajas letzter Film „Crawlwar allerdings schon bedeutend mainstreamiger. Nun drehte er in seiner Heimat für Netflix-einen Sci-Fi-Thriller, dessen Drehbuch 2016 auf Hollywoods Blacklist der besten, nicht verfilmen Stoffe landete. Kann „Oxygen“ das bestätigen?

Die Handlung

Die junge Frau (Melanie Laurent) erwacht und ist sofort angespannt. Sie befindet sich in einer kleinen High-Tech-Kammer, vollgestopft mit Bildschirmen und Apparaturen. Als sie unwillkürlich eine Frage stellt, antwortet ihre eine künstliche Intelligenz namens MILO, allerdings kann der Computer ihr nicht die Fragen beantworten, die sie hat. Oder er will nicht. Denn die Frau besitzt keinerlei Erinnerung daran, wer sie ist oder wie sie hier hergekommen ist. Was sie aber bald von MILO erfährt: Sie hat nur noch wenig Sauerstoff in der Kammer und wird in den nächsten 90 Minuten ersticken, wenn es ihr nicht gelingt, aus ihrem Gefängnis zu entkommen.

Wenig später hat sie immerhin ihren Namen herausgefunden: Elizabeth Hansen. Sie ist Norwegerin und eine preisgekrönter Biochemikerin. Und bald hat sie auch Kontakt zur Außenwelt und spricht mit einem Beamten der Polizei, der ihr verspricht, sie dort herauszuholen. Allerdings liefert ihr die Stimme des angeblichen Polizisten Falten, die mit ihren langsam zurückkehrenden Erinnerungen nicht übereinstimmen. Will ihr der Mann gar nicht helfen? Gibt es hier eine Verschwörung mit dem Ziel Elizabeth langsam und qualvoll ersticken zu lassen? Oder geht es hier um etwas ganz anderes?

Spannend bis zum Schluss

Oxygen ist tatsächlich klassische Sci-Fi, wer als Aja-Horrorfan also gehofft hatte, hier doch noch ein blutiges Spektakel zu bekommen, wird enttäuscht. Allerdings auch nur der. Denn von Spannung versteht Aja durchaus etwas und das zeigt er auch in der dichten Inszenierung. So bringt er trotz des auf den ersten Blick eher eintönigen Settings eine erstaunliche Auswahl an unterschiedlichen Bildern auf den Bildschirm, meist in Form von Flashbacks aus Elizabeths Erinnerungen. Den Rest der Zeit konzentriert er sich auf die höchst unterschiedlichen Stimmungslagen seines Stars Melanie Laurent. Und die ist in Oxygen beeindruckend gut.

Die Französin (Aja drehte den Film in Französisch, eine deutsche Tonspur ist aber vorhanden) wurde international 2009 zum Star, als sie eine wichtige Rolle in Quentin Tarantinos „Inglorious Basterds“ übernahm. Und ist seitdem sowohl in Frankreich wie in Hollywood gut im Geschäft. Warum, zeigt sie einmal mehr in Oxygen. Denn in Anbetracht fehlender Alternativen trägt ihr Gesicht den ganzen Film. Und sie muss den Zuschauer bei alle ihren unterschiedlichen Emotionen mitnehmen. Diese Darbietung, mal hilflos und verletzlich, mal wütend und kämpferisch, dann wieder völlig verzweifelt, sind die Momente des Films, die unter die Haut gehen.

Oxygen
Elizabeth geht langsam, aber unerbittlich die Lust aus.

Tolles Drehbuch

Neben Laurent gebührt aber auch Drehbuchautorin Christie LeBlanc großes Lob. Dass ihr Script auf der Liste der besten, unverfilmten Drehbücher stand, lässt sich nach Ansicht von Oxygen gut nachvollziehen. Zwar ist in diesem Film letztlich nichts enthalten, das man so oder ähnlich nicht schon einmal gesehen hätte, aber LeBlanc kombiniert bekannte Versatzstücke des Genres derart clever und legt ein so gutes Timing an den Tag, was Enthüllungen innerhalb der Geschichte betrifft, dass Oxygen trotz der sehr beschränkten Handlung stetig spannend bleibt. LeBlanc hat für coole Ideen auch gute Erklärungen und Auflösungen, das unterscheidet ihre Arbeit wohltuend von vielen anderen, schwächeren Scripts.
So gelingt es ihr beispielsweise, aus der recht unemotionalen, wenngleich durchaus warmen Stimme von MILO mal einen zutiefst hassenswerten, dann wieder recht sympathischen Charakter zu machen, je nachdem, an welchem Punkt der Story man gerade ist. Und doch ist jede dieser Wendungen nicht nur nachvollziehbar, sondern im inneren Kontext des Films auch logisch. Dass auch deshalb der Film nicht jeden gefallen wird, liegt in der Natur der Sache. Denn je nachdem, ob man sich als Zuschauer gern auch mal hinters Licht führen lässt und unerwartete Wendungen begrüßt oder eher ablehnt, wird Oxygen hier das Publikum spalten.
 
Oxygen
Kann sich die junge Frau rechtzeitig aus ihrem Gefängnis befreien, um nicht zu ersticken?

Fazit:

Mit Oxygen liefert Alexandre Aja zwar keinen Horrorfilm ab, aber dennoch einen durchgehend spannenden Thriller, in dem eine junge Frau um ihr Leben kämpft, deren tatsächliche Situation Christie LeBlancs tolles Drehbuch sehr geschickt erst nach und nach enthüllt. Melanie Laurent zeigt dabei eine starke Leistung als fast einziger Charakter im ganzen Film. Auf ihrem Gewicht liest der Zuschauer stets genau ab, wie es ihr geht und sie ist es auch, die den Zuschauer mit ihrem Spiel emotional berührt. Was LeBlancs Script für den Intellekt, ist Laurents Spiel für den Bauch. Und Ajas gute Regie setzt beides gut in Szene. Für Sci-Fi-Fans eine klare Empfehlung und auch Thriller-Freunde sollten ihren Spaß haben.

Oxygen startet am 12. Mai 2021 bei Netflix.