Die Novelle „1922“ von Horrorkönig Stephen King zählt sicher nicht zu den bekanntesten Werken des Autors und dürfte nur beinharten Fans des Gruselkönigs bekannt sein. Dennoch hat Netflix eine Verfilmung des Stoffes um eine grausame Tat und ihre Folgen in Auftrag gegeben. Kann sich das Werk des Regisseurs Zak Hilditch sehen lassen?
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Fans des Meisters wissen längst, dass sich King häufig auch mit Charakteren beschäftigt, die nicht sonderlich nett oder sympathisch sind. Vor allem in seinen zahlreichen Kurzgeschichten und Novellen erzählt er mit Vorliebe davon, wie ganz normale Menschen durch einen bestimmten Anlass zu Monstern werden. Auch in 1922, einer von vier Novellen, die King 2010 gesammelt unter dem Titel „Zwischen Nacht und Dunkel“ veröffentlichte (auch „A Good Marriage“ stammt aus dieser Sammlung), entscheidet sich ein unbescholtener Bürger zu einer schlimmen Tat – mit noch schlimmeren Folgen. Wie dicht ist die Verfilmung am Original?

1922: Die Handlung
Wir schreiben das titelgebende Jahr 1922. Der einfache Farmer Wilfred James (Thomas Jane) und seine Frau Arlette (Molly Parker) leben mit ihrem 14-jährigen Sohn Henry (Dylan Schmid) auf einer kleinen Farm im Nirgendwo von Nebraska. Die Liebe ist erkaltet und Arlette möchte das Land, das sie mit in die Ehe brachte, gern verkaufen und mit ihrem Sohn nach Omaha ziehen. Wilfred bekäme dafür die Scheidung. Doch der Farmer fühlt sich ohne den Hof überflüssig und kämpft beharrlich gegen Arlettes Wünsche an. Als sich Henry in die Nachbarstochter Shannon verliebt, nutzt Wilfred das aus, um den Jungen auf seine Seite zu ziehen. Und in ein grausames Mordkomplott gegen Ehefrau und Mutter. Doch der Entschluss zieht nicht minder grausame Folgen nach sich …
1922: One-Man-Show
Obwohl er nicht allein vor der Kamera steht und mit Neal McDonough sogar einen recht bekannten Mitstreiter hat, ist 1922 doch gänzlich die Show von Thomas Jane. Er allein steht im Zentrum und trägt mit seiner Präsenz den ganzen Film. Denn Jane macht den Zuschauer schon früh zu seinem Komplizen, indem er aus dem Off seine Pläne und Taten erklärt. Regisseur Zak Hilditch nutzt dazu die Rückblenden, denn er beginnt seinen Film Jahre nach den Ereignissen, während Wilfred seine Geschichte in einem Hotelzimmer zu Papier bringt. So springt der Film dramaturgisch geschickt immer wieder zwischen den beiden Zeitebenen hin und her und enthüllt nach und nach, was Wilfred getan hat – und welchen Preis er dafür zahlen muss.
Jane spielt diesen knurrigen Farmer mit viel Zurückhaltung und schafft es dennoch, das Publikum an seinem zunehmend verängstigten Innenleben teilhaben zu lassen. Seine teils stoische Ruhe und Akzeptanz dessen, was nach seiner Tat auf ihn zukommt, vermittelt Jane packend und glaubhaft. Und lässt die Zuschauer so Mitleid empfinden. Was angesichts seiner wenig sympathischen Figur eine große Leistung ist.

1922: Typische King-Story
Auch wenn King nicht unbedingt dafür bekannt ist, seine Storys häufig in der Vergangenheit anzusiedeln, so ist 1922 im Kern doch eine klassische King-Geschichte. Wie der Meister in vielen Interviews und Biographien verriet, war er als Kind ein großer Fan der Horrorcomics aus dem EC-Verlag. Die brachten Reihen wie „Tales from the Crypt“ heraus und erzählten meist von Menschen, die bekamen, was sie verdienten. Blutige, aber durchaus moralische Geschichten, in denen die Bösen von noch Böseren bestraft wurden oder Unschuldige von übernatürlichen Mächten gerächt wurden. King schrieb viele solcher Storys und auch 1922 passt perfekt in dieses Schema.
Bei einem Autoren psychologischer Krimis würde die Hauptfigur wohl unter der Last seines eigenen Gewissens zusammenbrechen, King lässt natürlich lieber unheimlichere Mächte agieren. Hilditch ändert an der Story so gut wie nichts und vertraut auf Kings gutes Gespür fürs Geschichten erzählen. Und das zahlt sich aus, denn die Länge der Novelle passt perfekt für einen 100-Minuten-Film und der Spannungsbogen, den King für seine Novelle entwarf, funktioniert auch in bewegten Bildern ausnehmend gut. Denn der Regisseur kleidet den Plot in schöne, teils intensive Bilder und hält sich bis auf wenige Momente auch mit blutigen Szenen zurück. Das Innenleben seines Antihelden bebildert Hilditch mit Naturaufnahmen, die je nach Stimmungslage das gleiche Motiv schön oder bedrohlich zeigen. Ein Nägelbeißer ist der Film dennoch nicht. Das Horrorelement der Story ist eher klein, bei 1922 überwiegt eindeutig das Drama. Und große Storytwists gibt es hier auch nicht.
Fazit:
1922 ist eine gelungene Adaption eines eher unbekannten Stephen King-Stoffes. Wie schon bei „Das Spiel“ vor einigen Wochen gelingt es Netflix auch hier, dem Publikum einen packenden Film zu präsentieren, der seiner Vorlage gerecht wird und Fans des Autors gut gefallen dürfte. Thomas Jane legt eine furiose One-Man-Show hin und lässt die Zuschauer mitleiden. Trotz fehlender Überraschungen im Plot eine runde Sache.
1922 ist seit dem 20. Oktober 2017 bei Netflix zu sehen.
