Harlan Coben gehört in den USA zu den erfolgreichsten Krimi- und Thrillerautoren überhaupt. Dennoch hat das Kino den 58-jährigen noch gar nicht entdeckt und auch im TV waren bislang nur wenige seiner mehr als 30 Romane als Umsetzung zu sehen. Und davon stammt keine aus den USA! Die neue Netflix-Produktion „Ich schweige für dich“ ist nicht nur eine britische Produktion, sie kann auch mit bekannten Gesichtern von der Insel aufwarten. Aber ist sie deshalb auch gut?
Das Böse bricht ein in eine scheinbar heile Welt. Das ist nicht nur ein beliebtes Thema von Stephen King, sondern kann auch ganz ohne übernatürliche Phänomene, Monster oder Psycho-Killer zum gruseligen Erlebnis werden. In einem solchen ganz normalen Bereich spielt sich Harlan Cobens Ich schweige für dich ab, das im Original „The Stranger“ heißt. Wie dicht liegen Verbrechen, Leid und Tod unter der Oberfläche der Zivilisation und wie leicht stößt man darauf, wenn man danach sucht? Mit diesen Fragen befasst sich die neue Mini-Serie bei Netflix.
Ich schweige für dich: Die Handlung
Anwalt Adam Price (Richard Armitage, „Hobbit“-Trilogie) ist erstaunt, als ihn eine völlig fremde, junge Frau (Hannah John-Kamen) auf dem Fußballplatz anspricht und ihm erzählt, dass die Schwangerschaft seiner Frau Corinne (Dervla Kirwan) vor zwei Jahren nur vorgetäuscht war. Corinne hatte damals scheinbar das Kind nach wenigen Wochen verloren. Als Adam seine Frau zur Rede stellt, antwortet sie nur ausweichend und vertagt das Gespräch auf den Abend. Doch sie kommt nicht mehr nach Hause zurück, schreibt Adam lediglich eine kurze Nachricht.
Doch Adam ist nicht der einzige in der kleinen Stadt, der Sorgen hat. Sein Klient Martin (Stephen Rea) will unbedingt in seinem alten Haus bleiben, obwohl eine Baufirma alle um ihn herum schon aufgekauft hat und dem alten Mann lukrative Angebote macht. Adams Sohn Thomas war heimlich auf einer Party im Freien, die einen Jungen im Koma zurücklässt. Und die beste Freundin der Polizistin Johanna ( Siobhan Finneran), die Unternehmerin Heidi (Jennifer Saunders), wird von einer jungen Frau erpresst, die Adam bereits kennengelernt hat …
Ich schweige für dich: Ein dicker Strang aus verschiedenen Storys
Auch wenn die Suche Adams nach seiner Frau in der Serie einen breiten Raum einnimmt, so ist es doch nicht die einzige Storyline, über die Ich schweige für dich verfügt. Und die sind nicht nur für sich genommen durchaus spannend und realistisch, sondern greifen auch sehr gekonnt langsam immer stärker ineinander. So kommt es dem Publikum bald vor, als habe sich Coben für seinen Roman von Schnitzlers „Reigen“ inspirieren lassen, weil er fast jede Figur in mindestens zwei Handlungssträngen verwendet, die aber um einiges kunstvoller verwebt als Schnitzler das tat.
Ein guter Krimi steht und fällt aber immer auch mit den Motiven, die Charaktere für ihre Taten haben. Begehen Figuren Verbrechen, für die der Zuschauer keinen glaubwürdigen Grund erfährt, so ist das Ergebnis meist eher unbefriedigend. Chef-Autor Danny Brocklehurst („Shameless“) gelingt es aber, die Ereignisse und Sünden in den acht Folgen von Ich schweige für dich stets nachvollziehbar zu gestalten. Umso härter wird einige Zuschauer das eine oder andere Handlungsfinale treffen. Denn auch hier bleibt die Serie real – nicht immer gibt es ein Happy-End.
Ich schweige für dich: Klassischer Krimi auf hohem Niveau
Die Spannung erzeugen die Macher aber nicht vordringlich mit extrem originellen Geschichten, denn die Verbrechen und deren Motive sind allesamt Klassiker wie Habgier, Rache oder Schuld. Vielmehr ist es der gelungene Aufbau jeder Folge und die perfekt eingesetzten Schlüsselmomente der einzelnen Storys, die den Zuschauer an den Bildschirm fesseln. Und die durchgehend gut spielenden Schauspieler, mit deren Rollen sich das Publikum bald stark identifizieren kann. Denn hier haben auch die Cops oft persönliche Motive für ihr Tun.
Und so spielt Ich schweige für dich geschickt mit den Emotionen des Zuschauers, geht mit ihm ihn bald hier hin, bald da hin, ohne je in den Verdacht zu geraten, das Publikum nur in die Irre führen zu wollen. Denn die beiden letzten Folgen lösen jedes Rätsel der Serie in erster Linie glaubhaft auf, wirre Plotsprüngen wie bei einem Fitzek-Roman gibt es hier nicht. Und das macht einige der Geschichten nur umso düsterer, denn die Kriminalstatistik dürfte die zum Teil niederschmetternden Aussagen der Serie noch unterstreichen.
Das Gefühl, das könnte auch in der eigenen Umgebung passieren, lässt sich am Ende der Serie nicht so ohne weiteres wegwischen und zeigt eine Gesellschaft, die viel gefährlicher ist, als der Einzelne das meist wahrhaben will. Wie real das tatsächlich ist, muss jeder für sich selbst entscheiden, in jedem Fall ist es ganz schön spannend. Daher ist Ich schweige für dich trotz TV-Optik und Inszenierung ein sehenswertes Stück Krimi – und damit für den deutschen Netflix-Kunden eigentlich wie geschaffen.
Spaß an britischen Krimis? Dann könnte „Bodyguard“ etwas für Sie sein.
Fazit:
Trotz auf den ersten Blick eher abenteuerlich erscheinenden Plots erweist sich Ich schweige für dich bald als glaubwürdige Studie der Verbrechen scheinbar ganz normaler Leute. Und kann daher auch anspruchsvolle Krimi-Fans überzeugen, denen die meisten Standard-Crime-Serien nicht viel geben. Gute Schauspieler, viele Mysterien, die von den Autoren sehr kunstvoll ineinander gewoben wurden und ständige Spannung machen die Serie zu einer weiteren Verstärkung der ohnehin guten Netflix-Krimis wie „Unbelievable“ oder „Criminal“.
Ich schweige für dich startet am 31. Januar 2020 bei Netflix.
Gesehen: Acht von acht Folgen.