Stadtgeschichten

Serienkritik: Stadtgeschichten

Obwohl die Serie „Stadtgeschichten“ auf den ersten Blick neu wirkt, spielen in Wirklichkeit die Zahlen vier und acht eine große Rolle. Denn eigentlich ist es bereits die vierte Staffel, die nach den Romanen des US-Schriftstellers Armistead Maupin entstanden ist – und sie befasst sich mit dem achten der neun Bücher um die Bewohner der Barbary Lane 28 in San Francisco. Einige der Darsteller sind bereits zum vierten Mal dabei. Was hat es mit diesen Mammutwerk und der Serienadaption auf sich?

Armistead Maupin schrieb seinen Romanzyklus zwischen 1978 und 2014 und beendete ihn nach eigener Aussage mit dem neunten Roman. 1993 wurden die ersten drei Bücher in der ersten Staffel namens „Tales of the City“ (so heißt auch die Netflix-Serie im Original) fürs britische Fernsehen umgesetzt. Eine zweite Staffel entstand 1998, eine dritte 2001, dann war Schluss. Nach 18 Jahren nimmt Netflix die Story um den kleinen Apartment-Block und seine Bewohner nun wieder auf. Kann man sich das auch ansehen, wenn man die früheren Staffeln nicht kennt?

Stadtgeschichten
Anna freut sich über die Rückkehr von Mary Ann nach 23 Jahren.

Stadtgeschichten: Die Handlung

Nach mehr als 20 Jahren kehrt Mary Ann (Laura Linney, „Ozark“) nach San Francisco zurück. Der Grund: Ihre ehemalige Vermieterin und Freundin Anna (Olympia Dukakis) feiert ihren 90. Geburtstag. Doch Mary Ann ist klar, dass nicht alle Bewohner der Barbary Lane 28 ihren Besuch frenetisch feiern werden. Denn ihren damaligen Mann Brian (Paul Gross) und ihre zweijährige Tochter ließ sie aus Karrieregründen zurück. Und die mittlerweile 25-jährige Shawna (Ellen Page, „The Umbrella Academy“) will erwartungsgemäß von ihrer Mutter nichts wissen.

Mary Anns bester Freund Michael (Murray Bartlett) freut sich hingegen, sie wiederzusehen und auch Anna macht keinen Hehl daraus, dass sie Mary Ann all die Jahre vermisst hat. Und der fällt auf, dass ihre Karriere zwar gut gelaufen ist, die Ehe mit ihrem neuen Mann Robert (Michael Park) aber gehörige Schieflage hat. Und so entschließt sie sich, noch etwas länger in der Stadt zu bleiben und zu versuchen, wieder in Kontakt mit ihrem alten Leben zu treten. Kann Mary Ann mehr als 20 Jahre einfach so ungeschehen machen?

Stadtgeschichten: Sexuell bunte Seifenoper

Was sich anhört, wie eine typische Seifenoper mit jahrzehntealten Entscheidungen, die bis zum heutigen Tag Auswirkungen haben und den Versuch, eine Annäherung an vergangene Zeiten hinzubekommen, ist auch eine. Die Handlung ist es denn auch nicht, die Stadtgeschichten außergewöhnlich macht. Sondern die sexuellen Ausrichtungen der Charaktere. Denn Maupin schuf in seinen Romanen ein Sammelsurium aus Figuren, die fast alle nicht der gängigen, heterosexuellen Norm entsprechen. Und das auch ausleben.

So ist Shawna bisexuell und offen für alle möglichen Experimente mit beiden Geschlechtern. Michael ist schwul und lebt mit seinem deutlich jüngeren Freund Ben zusammen. Jake und Margot waren einmal ein lesbisches Paar, bis sich Jake einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat – und sich in seinem neuen Körper plötzlich zu Männern hingezogen fühlt. Anna war einst ein Mann und hat sich vor vielen Jahren zu einer Frau machen lassen. Brian hingegen hat nach Mary Anns Weggang nie wieder eine Beziehung geführt. 

Stadtgeschichten
Wurden von Mary Ann damals verlassen: Ex-Mann Brian und Tochter Shawna hatten 23 Jahre lang nur sich.

Stadtgeschichten: Klare Botschaften

All diese Geschichten laufen in der Serie ineinander und machen klar, warum die Serie ihren Namen trägt – und warum sie ihn verdient. Dennoch bekommt Laura Linneys Figur Mary Ann in den ersten Folgen am meisten Screentime. Und ist daher die heimliche Hauptfigur der Serie. Denn sie kämpft mit der Entscheidung, ob sie ihrer entfremdeten Tochter Shawna eine schmerzhafte Wahrheit mitteilen soll, über die alle anderen Einwohner der Barbary Lane, so sie davon wissen, seit Jahrzehnten schweigen. Und Shawna so ein wichtiges Detail ihrer Herkunft verschweigen.

So seifig sich das mitunter auch anhört, so ist es doch ein klarer Hinweis auf Maupins Absichten beim Schreiben der Romane. Sein Universum, das vor Drag Queens, Schwulen, Lesben, Queers und Transgenders nur so wimmelt, handelt von ganz normalen Menschen mit ganz normalen Problemen. Es geht um Liebe, Schmerz, Schuld und Verzeihen und viele andere Themen, die in einer komplett heterosexuellen Serie genauso stattfinden könnten wie in den Stadtgeschichten von Armistead Maupin. Das gelingt Showrunnerin Lauren Morelli, obwohl sie den Sex nie ausblendet.

Und so den Teil, der eben zum Leben auch dazugehört, so zeigt, wie er ist. Das wird Zuschauern mit Vorurteilen sicher nicht davon überzeugen, im Unrecht zu sein. Aber es zeigt die Einstellung der Serienmacher, auch den körperlichen Aspekt unterschiedlicher Lieben als das zu zeigen, was er ist: manchmal kompliziert und doch völlig menschlich. Dazu bleiben die Darstellungen auch in einem zeitlich überschaubaren Rahmen und machen nur einen kleinen Teil der Serie aus. Die allgemeingültigen Probleme mit den Gefühlen spielen hier stets die Hauptrolle.

Fazit:

Eine ganze Handvoll guter Schauspieler erwecken in Stadtgeschichten eine Welt zum Leben, mit denen viele Zuschauer vermutlich kaum Berührungspunkte haben – und die dennoch genauso vertraut scheint wie jede andere Gemeinschaft. Das ist das große Plus der Serie, die ansonsten wenig mehr ist als eine auf ordentlichem Niveau geschriebene Seifenoper mit sympathischen Figuren. Wer sich also gern Herz-Schmerz-Geschichten ansieht, sollte der Barbary Lane ruhig einmal einen Besuch abstatten.

Stadtgeschichten lauft ab dem 7. Juni 2019 bei Netflix.

 Gesehen: Vier von zehn Folgen.

Stadtgeschichten
Mary Anns bester Freund Michael ist glücklich über ihren Besuch in der Barbary Lane.