Siiri Solalinna

Filmkritik: Hatching

Finnland ist ein eigenwilliges Land. Die Finnen hören Metal wie andere Länder Volksmusik, sorgen in vielen Firmen für extrem gute Arbeitsbedingungen und kämpfen Jahr für Jahr gegen die monatelange Dunkelheit in Herbst und Winter mit bunten Lichtern und anderen Einfällen. Da ist es nicht erstaunlich, dass auch finnische Filmemacher etwas Eigenwilliges in ihrer Arbeit mitbringen. Wer schon einmal ein Werk von Aki Kaurismäki gesehen hat, der weiß, was gemeint ist. Warum also sollte das für einen finnischen Horrorfilm nicht gelten? Und so zeigt „Hatching“ von Regisseurin Hanna Bergholm auch Ansätze, die Horrorfans nicht jeden Tag sehen. Ob das gut oder schlecht ist, verrät die Kritik.

Hatching
Tinjas Familie lebt – der Mutter sei Dank – in der Perfektion des Grauens.

Die Handlung

Die junge Tinja (Siiri Solalinna) hat kein einfaches Leben. Denn ihre Mutter (Sophia Heikkilä) ist ein wahrer Alptraum. Die unglückliche Hausfrau blüht nur dann auf, wenn sie Videos über ihr angebliches so heiles und perfektes Leben für ihren Vlog dreht und dafür ihre ganze Familie entsprechend in Szene setzt. So muss Tinja hart für eine Karriere als Turnerin trainieren, obwohl ihr das eigentlich gar keinen Spaß macht. Ihr Vater (Jani Volanen) lebt längst in seiner eigenen Welt und ist seiner Tochter keinerlei Hilfe. Und Tinjas kleiner Bruder Matias (Oiva Ollila) ist ein cholerischer kleiner Tyrann, der sie fortwährend ärgert. Dennoch hat sich Tinja einen Sinn für die wichtigen Dinge im Leben bewahrt, wenn sie das auch nur heimlich ausleben kann.

Als sie eines Tages einen sterbenden Vogel von seinem Leid erlöst, findet sie in der Nähe ein Ei, das sie mit zu sich nach Hause nimmt und warm hält. Schnell wird ihr klar, dass sie da kein normales Vogelei gefunden hat, denn das Ding wird schnell überdimensional groß und braucht bald findige Verstecke, damit keiner aus der Familie es bemerkt. Als dann das Wesen im Innern schließlich schlüpft, erlebt Tinja eine gruselige Überraschung. Der übergroße Vogel, der dort herauskommt, hat wenig federn und viel Haut und in seinem Schnabel menschliche Zähne. Nach einem ersten Schock kümmert sich Tinja um das Wesen – und das dankt ihr die Fürsorge mit blutigen Taten …

Social-Horror aus dem Norden

Bislang ist Hanna Bergholm nur als Regisseurin für – zum Teil preisgekrönte – Kurzfilme bekannt gewesen, Hatching ist ihr Spielfilm-Debüt. Davon merkt man allerdings nichts, denn handwerklich ist der Film tadellos. Sowohl die handgemachten Effekte wie die Kreatur zu Beginn als auch die CGI sind auf gutem Niveau, Kameramann Jarrko Laine fängt die Landschaft ebenso virtuos ein wie die Gesichter der Protagonisten, die einen guten Teil der Story erzählen. Allerdings waren Bergholm und Drehbuchautor Ilja Ratsi deutlich mehr an den sozialen und den Coming-of-Age-Aspekten der Story interessiert als an ihrem Horrorpotenzial.

Das soll nicht heißen, dass Hatching langweilig oder harmlos wäre, beides ist nicht der Fall. Aber der Film lässt die viele Möglichkeiten liegen, seine Story noch deutlich intensiver und düsterer zu erzählen, als Bergholm das letztlich tut. So bleiben die Angriffe des Wesens auf andere die meiste Zeit des Films ein Mysterium, da der Film stets wegblendet, bevor eine Attacke wirklich startet. Bergholm wollte wohl nicht zu viel Monsteraspekte der Kreatur zeigen, um sie nicht zu unsympathisch zu machen. Das ist im Kontext der Geschichte auch nachvollziehbar. Dennoch wird Hatching dadurch etwas zu zahnlos, um echte Horrorfans abzuholen. Wer hingegen auch mit Dark Fantasy zufrieden ist und darüber hinaus auch Genre-Filme mit sozialem Kontext sehen möchte, wie beispielsweise „The Innocents„, der ist bei Hatching richtig.

Siiri Solalinna
Als Tinja das Ei eines toten Vogels findet, will sie sich des Kükens annehmen. Doch das Ei wächst schnell.

Das Kind im Zentrum

Denn auch dieser nordische Film bezieht den Hauptteil seiner Schocks aus den Zuständen, in denen Kinder, hier Tinja und Matias, leben und den daraus entstehenden Reaktionen. Schnell wird klar, wer in Hatching das wahre Monster ist. Und in welcher Abhängigkeit Tinja leben und funktionieren muss, um wenigstens so etwas ähnliches wie eine Kindheit zu haben. Und so sind die Szenen, in denen die Mutter die Tochter drangsaliert, eigentlich die schlimmsten Momente des Films, denn sie sind mit Abstand die kältesten. Denn Tinja muss abwechselnd Sklavin und Vertraute sein, Kind sein darf sie hingegen nie. Dass sich dann Gefühle entwickeln, wie Bergholm sie in ihrem recht metaphorischen Film zeigt, dürfte keinen Zuschauer wundern.

Und Autor Rautsi hat sich zumindest einige der klassischen Themen des Horror-Genres angesehen und für sich genutzt. So ist das Doppelgänger-Thema eines der ältesten der Schauerliteratur überhaupt. Und auch ein wenig Dorian Gray lässt sich auf eine verdrehte Weise in Hatching wiederfinden. Im Finale erfüllt sich Tinjas Schicksal dann auch nicht wirklich unerwartet. Als Mensch mit Empathie, die dem Rest ihrer Familie augenscheinlich weitgehend abgeht, ist Tinjas Story konsequent zu Ende gebracht. Auch wenn die Figuren manchmal ein wenig schablonenhaft und satirisch wirken, sind sie doch lebendig genug, um das Publikum auf diese skurrile Reise mitzunehmen.

Hatching
Beim Training muss sich Tinja völlig verausgaben, um ihrer Mutter zu gefallen.

Ein Sonderlob gebührt dabei der inzwischen 13-jährigen Siiri Solalinna, die in ihrer Rolle als Tinja komplett überzeugt. Und es dem Publikum kaum möglich macht, dem Geschehen ohne große Emotion zu folgen. Außerdem ist das Creature-Design des Films absolut sehenswert. Was da aus dem Ei schlüpft, ist einerseits wirklich furchterregend, andererseits aber auch bemitleidenswert. Und wirkt für ein mechatronisches Gebilde auch noch erstaunlich lebendig. Auch wenn Hatching zu keinem Zeitpunkt die Intensität eines The Innocents erreicht, so ist er doch vor allem für Fans nicht ganz so rabiaten Horrors und Body-Horror-Freunden in jedem Fall einen Blick wert.

Fazit:

In Hatching geht das Gemisch aus klassischem und Body-Horror, Coming of Age-Story und böser Satire über fiese Mütter und desinteressierte Väter nicht immer ganz auf. Dennoch bleibt unter dem Strich mehr Licht als Schatten. Die junge Hauptdarstellerin ist großartig, die handgemachten Tricks, vor allem die Kreatur des Films, sind für das niedrige Budget (knapp vier Millionen Euro) sehr gelungen. Und emotional kalt lässt einen die Geschichte auch nicht, dafür sorgt neben Siiri Sololinna auch Regisseurin Hanna Bergholm mit klarem Strich, handwerklichem Können und stringent erzähltem Plot. Hatching ist damit zwar sicher noch kein neuer Meilenstein des Genre-Kinos, aber ein durchaus ansehnlicher Film, der vor allem Fans von Dark Fantasy absolut abholen dürfte.

Hatching startet am 28. Juli 2022 in den deutschen Kinos.

Hatching
Da ist es kein Wunder, dass das Wesen aus dem Ei auf Tinjas Mutter nicht gut zu sprechen ist.