To The Bone

Filmkritik: To The Bone

Wenn die Waage das ganze Leben beherrscht: Lily Collins spielt die Hauptrolle in einem von Netflix produzierten Film über ein junges Mädchen mit Ess-Störung. Lässt sich ein derart schwieriges Thema adäquat in einen Film wie „To The Bone“ gießen?

Welche Filme gibt es bei Netflix noch? Den Überblick über alle Netflix-Filmkritiken finden Sie hier.

Eine Figur mit einer Krankheit zu spielen, ist eigentlich Oscarfutter. Davon können unter anderem Dustin Hoffman („Rain Man“) und Tom Hanks („Philadelphia“) ein Lied singen. Doch dazu muss alles passen, vor allem die Krankheit und ihre Symptome glaubwürdig und packend gespielt werden. Ist Lily Collins das gelungen?

To The Bone: Die Handlung

Die 20-jährige Ellen (Lily Collins) kämpft schon lange mit Anorexie. Ihr Leben dreht sich nur noch um ihr Gewicht, das Kalorienzählen und genug Bewegung, damit nur ja kein Gramm Fett an ihrem Körper zu sehen ist. Eine weitere Therapie hat sie gerade abgebrochen und steht nun bei Stiefmutter Susan (Carrie Preston, „The Good Wife“) und Stiefschwester Kelly (Liana Liberato) vor der Tür. Susan ist wenig begeistert, doch da Ellens leibliche Mutter (Lili Taylor) sich mit neuer Lebensgefährtin als Pferdezüchterin in die Einöde begeben hat und als Bleibe für Ellen nicht mehr zur Verfügung steht, kümmert sich Susan um sie. Bald hat sie einen neuen Arzt gefunden, der die Dinge etwas anders angeht.

Doch Dr. Beckham (Keanu Reeves) will sich erst ein Bild von Ellen machen, bevor er die junge Frau in seine WG für Essgestörte aufnimmt. Als  er sie akzeptiert, lernt Ellen nicht nur neue Leute kennen, darunter den Engländer Luke (Alex Sharp), sondern auch neue Sichtweisen auf die Probleme, die alle dort teilen. Aber wird das Ellen helfen, sich nicht selbst zu Tode zu hungern?

Drama ohne Kitsch

In Zeiten des immer schlimmer werden Körperkults bei jungen Menschen sind Ess-Störungen ein sensibles Thema. Und in Anbetracht der vielen verschiedenen Arten, die auftreten können, eigentlich eines, bei dem ein Film fast nur verlieren kann. Doch das hat weder Regisseurin und Autorin Marti Noxon („Buffy“) noch Lily Collins gestört, die beide in ihrem Leben bereits selbst Probleme mit Ess-Störungen hatten. Und das Thema offenkundig für wichtig genug hielten, um darüber einen Film zu machen. Das hat sich als gute Idee herausgestellt, denn To The Bone ist ein absolut gelungener Film über ein Mädchen mit Problemen. Denn glücklicherweise bekommt die Krankheit nicht mehr Platz eingeräumt, als sie unbedingt braucht, dafür steht die Figur der Ellen im Zentrum. Und die besteht trotz ihrer Magersucht aus weitaus mehr als einer Ess-Störung.

Das große Plus des Films ist es, nicht zu werten. So gibt es zwar vieles, was in Ellens Leben nicht gut lief, ein Auslöser wird aber ebenso wenig präsentiert wie eine einfache Lösung, der Krankheit zu entkommen. Noxon weist keine Schuld zu, lässt aber auch keine Entschuldigungen gelten. Sie zeigt die Krankheit als das, was sie ist: ein psychisches Problem mit körperlichen Folgen. Am Beispiel von Ellen wird klar, dass es sich dabei um eine Krankheit handeln kann, an deren Ende der Tod steht. Keanu Reeves, der in der kleinen Rolle des Spezialisten überzeugen kann, möchte deshalb auch zuerst feststellen, ob Ellen überhaupt daran interessiert ist zu leben, bevor er seine Zeit investiert. Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage wird für die junge Frau zum zentralen Thema ihres weiteren Weges.

To The Bone
Dr. Beckham (Keanu Reeves) untersucht Ellen, bevor er sie in sein Programm aufnimmt. Kann der manchmal fast ruppig wirkende Arzt ihr helfen?

Mutige Rolle

Besonderen Mut muss man dabei Lily Collins zusprechen, die trotz ihrer Vorgeschichte bereit war, sich noch einmal auf einen so erbarmungswürdigen Zustand herunterzuhungern. Es hat sich gelohnt – sie trägt den Film problemlos auf ihren schmalen Schultern und ist in fast jeder Szene des Films zu sehen. Doch auch die anderen Schauspieler machen ihren Job gut: Die Belastung, die für Eltern, Geschwister und Freunde entsteht, wird von Noxon nicht unter den Teppich gekehrt, sondern ebenfalls thematisiert. Hier ist vor allem Lili Taylor zu nennen, die als Mutter den Anblick ihres Kindes kaum ertragen kann und schwer darunter leidet, dass Ellen immer weniger wird.

Bei aller Dramatik und Emotion erzählt Noxon Ellens Geschichte ruhig und beobachtend, schafft immer wieder auch Abstand zur Heldin. Und sorgt damit dafür, dass die Krankheit für den Zuschauer letztlich ebenso ein Rätsel bleibt wie für die Betroffenen. Dazu kommen die Details, die Noxon in ihrem Drehbuch verarbeitet, und die ihre Geschichte so glaubwürdig machen. Die weite Kleidung, die Angst vor Nähe, besonders im körperlichen Bereich, die Spuren am Körper, die diese Krankheit hinterlässt – all das werden Zuschauer, die eigene Erfahrungen mit Ess-Störungen haben – ob als Betroffene oder Familie – mit möglichem kalten Schauer auf dem Rücken wiedererkennen.  

Fazit:

In ihrem Spielfilmdebüt als Regisseurin verarbeitet Marti Noxon ihre eigenen Erfahrungen – und legt einen sehr sehenswerten Film hin. Trotz des düsteren Themas wird To The Bone nie zu schwer, gelingen Noxon immer wieder auch Momente, bei denen man lächeln kann. Dabei wir der Film nie verharmlosend oder respektlos gegenüber den Erkrankten. Vielmehr stellt er das Elend und den harten Kampf der Anorexie- und Bulimiekranken so dar, dass über die Ernsthaftigkeit, Tücke und Gefährlichkeit dieser Krankheiten nie ein Zweifel besteht. Das ist eine große Leistung – erst recht für eine Debütantin. To The Bone ist kein großes, tränenreiches Drama, aber ein guter Film.

To The Bone läuft ab dem 14. Juli bei Netflix.

To The Bone
Ellen beginnt, Lukes (Alex Sharp) Nähe zu genießen. Ist das der Beginn eines Heilungsprozesses oder wird sich die scheue junge Frau wieder zurückziehen?