Mr. Harrigans Phone

Filmkritik: Mr. Harrigans Phone

Stephen King ist ein äußerst fleißiger Autor. Nach eigenen Angaben gibt es kaum einmal einen Tag im Jahr, an dem er nicht in seinem Büro sitzt und arbeitet. Deshalb kann der 75-jährige auf eine erstaunliche Anzahl an Romanen und Kurzgeschichten-Sammlungen zurückblicken – mehr als 70 zurzeit. Daher herrscht auch an Vorlagen für Film-Adaptionen kein Mangel. Die neueste läuft jetzt bei Netflix, heißt „Mr. Harrigans Phone“ und stammt aus seiner letzten Novellensammlung „Blutige Nachrichten“. Was Fans darüber wissen müssen und ob der neue Film tatsächlich das Siegel „Horror“ verdient, verrät die Kritik.

Jaden Martell
Seit Jahren liest Craig dem schrulligen Milliardär John Harrigan Klassiker vor.

Die Handlung

2003 in einer Kleinstadt in Neu England. Der junge Craig, der früh seine Mutter verlor und allein mit seinem Vater lebt, fällt beim Vorlesen in der Kirche dem Milliardär Johan Harrigan (Donald Sutherland) auf. Denn der sucht jemanden, der ihm Werke der Weltliteratur vorliest, die Harrigan aufgrund seiner schlechten Augen nicht mehre allein lesen will oder kann. Der Junge willigt ein und besucht nun Mr. Harrigan dreimal in der Woche, um ihm Bücher vorzulesen. Das geht viele Jahre so, mittlerweile ist Craig (Jaden Martell) in die Highschool. Neben seinem Lohn bekommt er auch viermal im Jahr zu besonderen Feiertagen einen Brief von Mr. Harrigan, in dem immer ein Los enthalten ist. Und zu Weihnachten gewinnt eines dieser Lose tatsächlich 3000 Dollar.

Weil Craigs größter Wunsch, ein iPhone, bereits von seinem Vater erfüllt wurde, beschließt Craig, Mr. Harrigan auch eines zu kaufen. Zuerst ist der alte Mann sehr abwehrend. Doch als Craig ihm zeigt, dass der Dinge wie Börsenkurse und Wirtschaftsnachrichten in Echtzeit lesen kann, entwickelt Mr. Harrigan bald reges Interesse an dem kleinen Smartphone. Als der Milliardär schließlich nach einem langen Leben stirbt, ändert sich auf für Craig vieles. Denn durch eine spontane Idee am Grab seines Freundes hat der Schüler plötzlich einen ganz besonderen Draht zu einer dunklen Macht, mit der er nicht gerechnet hatte. Doch was fängt er nun damit an?

Nicht die stärkste Vorlage

Stephen King hat in seiner langen Karriere einen Wandel vollzogen. Waren es zu Beginn hauptsächlich die Story-Ideen, die sich von anderen Autoren abhoben und ihn zum „König des Horrors“ machten, so hat sich im Lauf der zeit sein Stil so weiterentwickelt, dass er von manchen Kritikern inzwischen als großer Erzähler und Chronist des US-Kleinstadtlebens anerkannt wird. Viele seiner jüngeren Romane und Erzählungen leben mehr von seiner brillanten Schreibe als von den hochoriginellen Ideen. Zudem verabschiedete sich King auch immer mehr von reinen Horror-Storys und schreibt mittlerweile auch Krimis, Fantasy-Sagas und immer wieder auch Coming-of-Age-Geschichten. Das begann bereits mit „Carrie“ und hat den 75-jährigen bis heute als Thema nie ganz verlassen.

Mr. Harrigans Phone ist so eine Coming-of Age-Geschichte. Denn als Horror-Story, von Netflix selbst mit frei ab 12 Jahren versehen, wird der Film wohl kaum jemandem den Schlaf rauben. Allzu harmlos ist die Story, allzu wenig passiert in den 105 Minuten. Denn die lange Kurzgeschichte ist erst 2020 erschienen und lebt von der Art, wie King sie erzählt und nicht von dramatischen Ereignissen oder gar Schockmomenten. Und so dürften sich reine Horrorfans schon in den ersten 30 Minuten von dieser Verfilmung verabschieden. Beinharte King-Fans und Zuschauer, die mehr für Dramen als für Horror übrig haben, könnten mit Mr. Harrigans Phone aber ganz zufrieden sein.

Donald Sutherland
Mr. Harrigan hört Craig gern zu, behält aber über viele Jahre seine Distanz.

Grund zum Einschalten: Sutherland

Das liegt auch am starken Cast. Donald Sutherland, inzwischen 87 Jahre alt, spielt den ebenso enigmatischen wie mitunter sogar leicht furchteinflößenden John Harrigan mit all seiner Erfahrung. Und hält das Publikum lange im Unklaren darüber, was von diesem alten Mann wirklich zu halten ist. Und Jaden Martell, der mit „ES“ bereits Erfahrungen mit Stephen King-Stoffen gesammelt hat, spielt den heranwachsenden Craig mit all seinen Gewissensbissen und Gefühlswallungen so glaubhaft und grundsympathisch, dass ihm schnell die Herzen zufliegen. Martell macht den Konflikt greifbar, in dem er sich befindet. Ein wenig wie bei Peter Parker muss er einsehen, dass mit großer Macht auch große Verantwortung kommt.

Regie und Drehbuch übernahm der erfahrene Regisseur und Autor John Lee Hancock und diese Erfahrung merkt man dem Film positiv wie negativ an. Mit großer Routine baut Hancock die Situation spannend auf und beweist auch beim Drehbuch gutes Gespür für Timing und den richtigen Moment, das Publikum zu verunsichern. Aber mehr als routiniert wird es eben auch nie. Hancock erzählt die Geschichte sehr genau nach der Vorlage. Und die wurde in einem Format geschrieben – der sehr langen Kurzgeschichte – aus der bereits ein paar großartige King-Verfilmungen hervorgingen. Ob „Die Verurteilten“, „Stand By Me“ oder „Der Nebel“, alles waren genau diese um die 100 Seiten langen Storys. Aber: Mr. Harrigans Phone ist einfach nicht sonderlich originell oder packend. Und weil sich Hancock so eng daran hält, ist es der Film auch nicht.

Mr. Harrigans Phone
In der neuen Highschool bekommt Craig Probleme mit einem Mitschüler.

Hier fehlen eindeutig filmische Impulse, die der recht harmlosen Geschichte vielleicht noch neue Wendungen oder Aspekte hätten geben können. Doch hier war offenbar die Ehrfurcht vor King zu groß, denn die neueste Verfilmung ist eine ordentlich erzählte, aber insgesamt weitgehend zahme Umsetzung, die den dramatischen Aspekt der Story deutlich über den unheimlichen stellt und die Entwicklung Craigs in den Fokus nimmt. Und das gelingt Hancock auch sehr ordentlich. Ein wenig mehr Thrill hätte es, gerade für King-Fans, aber ruhig sein dürfen.

Fazit:

Mit Mr. Harrigans Phone kommt eine weitere Umsetzung einer Stephen King-Story zu Netflix, von denen bisher keine wirklich Eindruck hinterlassen konnte. Das gilt auch für diesen Film, denn in seiner Konzentration auf den jugendlichen Protagonisten bleiben die ohnehin spärlich gesäten Momente des Horrors in der Vorlage im Film fast komplett auf der Strecke. Einschalten sollten daher eher harte King-Fans, die sich ohnehin jede Adaption des Meisters ansehen. Außerdem Zuschauer, die sich an gutem Schauspiel erfreuen können denn die lebende Legende Donald Sutherland spielt den ambivalenten Namensgeber des Films sehr sehenswert. Insgesamt ist diese Umsetzung aber leider nur ein durchschnittlicher Film geworden.

Mr. Harrigans Phone startet am 5. Oktober 2022 bei Netflix.

Mr. Harrigans Phone
Ms. Hart ist Craigs Lieblingslehrerin. Ihr Schicksal stellt den Jungen auf eine harte Probe.