Der schlimmste Mensch der Welt

Filmkritik: Der schlimmste Mensch der Welt

Das norwegische Duo, das für „Der schlimmste Mensch der Welt“ verantwortlich ist, hat bereits einige interessante Filme in die Kinos gebracht. So drehte Regisseur und Co-Autor Joachim Trier unter anderem den Mystery-Thriller „Thelma“. Und Co-Autor Eskil Vogt überzeugte unlängst mit eigenem Drehbuch und Regie-Debüt bei „The Innocents„. Geht also auch dieser Film in eine dunkle, mysteriöse Richtung? Oder bekommt der Zuschauer hier ein klares Beziehungsdrama in der Tradition eines Ingmar Bergman-Films? Das klärt die Kritik.

Renate Reinsve
Julie ist fast 30, hat aber ihren Platz im Leben noch nicht gefunden.

Die Handlung

Julie (Renate Reinsve) ist fast 30 und hat bereits mehrere abgebrochene Studiengänge hinter sich. Nun jobbt sie als Verkäuferin in einem Buchladen und lernt eines Abends Aksel (Anders Danielsen Lie) kennen, einen bekannten Comiczeichner. Der ist allerdings knapp 15 Jahre älter als sie und hat andere Erwartungen ans Leben als Julie. Weil er sich genau deshalb von ihr trennen will, bevor die Sache zu ernst wird, verliebt sich Julie in ihn und bleibt. Doch bei einem Wochenende mit Aksels Freunden, die zum großen Teil bereits Kinder haben, kocht das Thema der Zukunftsplanung zwischen beiden wieder hoch, ein echtes Gespräch darüber führen sie aber nicht.

Monate später feiert Aksel eine große Party anlässlich eines neuen Comic-Releases. Julie langweilt sich dort irgendwann und sagt Aksel, dass sie nach Hause geht. Stattdessen lässt sie sich ziellos durch Oslo treiben und landet schließlich auf einer Hochzeitsfeier, auf der sie niemanden kennt. Dort trifft sie auf Eivind (Herbert Nordrum), zu dem sie sich sofort hingezogen fühlt. Zwar sind beide in einer Beziehung und beschließen daher, ihre Partner nicht zu betrügen, doch sie loten sehr genau aus, wie weit sie gehen können, ohne ihr Tun als Betrug zu empfinden. Als sie sich im Morgengrauen schließlich voneinander lösen, hinterlassen sie Spuren beim jeweils anderen …

Ein Film wie ein Roman

Oft schreibt eine Kritik davon, wie ein Film zu lesen sei. Und selten passt dieses Wort besser als bei Der schlimmste Mensch der Welt. Denn Trier und Vogt erzählen die Geschichte in zwölf Kapiteln plus Prolog und Epilog – wie einen Roman. Zudem verpassen sie ihrer Story auch noch eine Erzählerin, die aus dem Off regelmäßig Dinge kommentiert und klarstellt, manchmal aber auch einfach nur wiederholt, was die Charaktere im Film auch gerade sagen oder gesagt haben. Dieses Stilmittel führt dazu, dass die beiden Autoren literarisch durchaus hochwertige Dialoge unterbringen, die sich im Kontext der Erzählung ganz natürlich und gar nicht künstlich überhöht anhören.

So wirft Julie Aksel in einem Streit vor: „Alles, was wir fühlen, müssen wir in Worte fassen. Können wir nicht einfach nur fühlen?“ Und meint damit die Ohnmacht, die man erreicht, wenn einem angesichts der emotionalen Situation die Worte ausgehen. „Die Summe westlicher Schuldgefühle saß neben ihm auf der Couch.“ Das sagt die Erzählerin über Eivinds Freundin, die so nachhaltig lebt, wie es eben geht. Und beschreibt mit einem einzigen Satz eine gesamte Lebenssituation. Immer wieder gelingen Trier und Voigt solche Momente, die in aller Kürze eine komplexe Situation perfekt beschreiben. Was den Film für Leser gehobener Literatur zu einem Fest macht. Doch nicht nur für die.

Der schlimmste Mensch
Obwohl sie in einer Beziehung mit Aksel lebt, bandelt sie auf einer Feier mit Eivind an.

Mut zum erzählerischen Risiko

Wenn für Julie angesichts der Erkenntnis einer neuen Liebe wortwörtlich die Zeit stehenbleibt, dann passt das eigentlich nicht zum Rest des Films. Doch Trier pfeift darauf, weil er die Idee offenbar genug mag, um das Risiko einzugehen. Und schafft so eine der schönsten Szenen des ganzen Films. Auch wenn Julie und Eivind sich auf der Hochzeit kennenlernen, lässt Trier durch einfache Gesten und Blicke die Luft flirren und so die körperliche Anziehung spürbar werden, ohne sie explizit benennen zu müssen. Und versprüht ganz nebenbei eine Erotik, die auch ohne nackte Haut auskommt und dennoch völlig unmissverständlich ist. Was nicht heißt, dass Trier nicht auch Sex deutlich zeigt, wenn es in seinen Kontext passt. Denn Julies Suche nach etwas, das sie nicht benennen kann, führt sie auch in viele Betten.

Es würde wohl zu weit führen, Trier und Vogt hier eine Aussage über eine ganze Generation unterstellen zu wollen, denn so wie Julie ist sicher nicht jeder. Aber sie ist auch nicht allein auf der Suche nach einem Platz, der ihrer ist und an dem sie bleiben möchte. Und so wirkt das mitunter seltsam anmutende Verhalten der jungen Frau bei genauerem Hinsehen eher konsequent als verwirrt. Denn immerhin hat Julie ein gutes Gespür dafür, was sie nicht will – oder nicht mehr will. Die noch relativ unbekannte Renate Reinsve spielt diese Figur mit einem kühlen Feuer und ganz viel Charme und fasziniert deshalb nach 120 Minuten noch immer genauso wie in den ersten Szenen. Dabei gibt sie dem Zuschauer keine Antworten, weil sie selbst keine hat.

Der schlimmste Mensch
Und doch hängt sie auch an ihrem Freund Aksel, der so anders ist als sie selbst.

Weil Trier und Vogt auch über ein ausgezeichnetes Gefühl für Tragik verfügen, wird Der schlimmste Mensch der Welt im letzten Drittel auch noch richtig traurig. Und so deckt der Film nicht nur eine gute Bandbreite an Gefühlen ab, in die er das Publikum stürzt. Er sinniert auch mit einer erstaunlichen Leichtigkeit über die großen Fragen des Lebens. Denn die oft bleierne Schwere solcher Filme zeigt Der schlimmste Mensch der Welt in keiner einzigen Szene. Und dann gelingt es Trier und Vogt auch noch, ihrem filmischen Roman auf einer absolut glaubwürdigen und konsequenten Note enden zu lassen. Da ist es wirklich kein Wunder, dass der Film unter den Oscar-Nominierungen für den besten fremdsprachigen Film war.

Fazit:

In Der schlimmste Mensch der Welt kommen einige Punkte zusammen, die als Ganzes einen großartigen Film ausmachen. Da ist das starke Drehbuch von Joachim Trier und Eskil Vogt, das spielerisch in Ton, Geschwindigkeit und Emotion variiert. Und dessen Sprache manchmal ebenso spannend ist wie die Handlung. Da ist die herausragende Leistung von Renate Reinsve, die die komplexe Figur der Julie vor den Augen des Zuschauers in einer atemberaubenden Geschwindigkeit zum Leben erweckt und lebendig hält. Und da ist der Mut der Macher, sich von großen Themen nicht abschrecken zu lassen und dennoch einen federleichten Film darüber zu machen. Großes, packendes Kino, das die Deutungshoheit jedem einzelnen Zuschauer überlässt.

Der schlimmste Mensch  der Welt startet am 2. Juni 2022 in den deutschen Kinos.

Renate Reinsve
Julie lernt schließlich, dass das Leben einem manchmal die Entscheidungen abnimmt.