Sweet Tooth

Serienkritik: Sweet Tooth

Robert Downey Jr. geht fremd! Der Marvel-Star, der als „Iron Man“ weltweit bekannt ist, produzierte mit „Sweet Tooth“ eine DC-Serie. Allerdings werden die Verantwortlichen bei Marvel ihm wohl verzeihen, denn die Serie um einen kleinen Jungen mit seltsamer Optik und Fähigkeiten in einer von einer Seuche veränderten Welt erschien bei DCs Spezial-Label „Vertigo“ (wie beispielsweise auch „Sandman“ und „Preacher„) und hat mit den Superhelden des Verlages nicht viel zu tun. Fraglicher ist da schon, ob Autor und Zeichner Jeff Lemire, der Schöpfer von Sweet Tooth, dem Produzenten für diese Version seines Comics verzeiht. Denn viel Ähnlichkeiten zwischen der Vorlage und der Adaption gibt es hier nicht. Lohnt sich die Serie trotzdem?

Sweet Tooth
Ein Virus rottet die Menschheit aus – und lässt Neugeborene als Mensch-Tier-Mischungen zur Welt kommen. Die werden schnell zum Sündenbock.

Die Handlung

Das Ende der Menschheit ist nah. Eine Seuche rafft den Großteil der US-Bevölkerung dahin, gleichzeitig werden keine normalen Babys mehr geboren. Alle Neugeborenen sind Hybrid-Wesen aus Mensch und einer bestimmten Tierart. So gibt es Babys mit Schnäbeln und Federn, Kinder mit Fell und schwarzer Stupsnase und viele andere. Gus (Christian Convery) lebt viele Jahre später mit seinem Vater (Will Forte) allein in einer Hütte tief im Wald. Er verfügt über ein Geweih und Hirschohren und glaubt, der einzige Junge auf der Welt zu sein, der so aussieht. Er versteht nicht, warum sein Vater fast panisch darum besorgt ist, dass andere Menschen ihn nie zu Gesicht bekommen. Und Gus deshalb niemals in das Gebiet hinter dem Zaun am Waldrand gehen darf.

Doch eines Tages wird sein Vater schwer krank und stirbt wenig später an der Seuche, gegen die Gus immun zu sein scheint. Und so muss der kleine Junge allein zurechtkommen. Bis er schließlich auf einem seiner Streifzüge durch den Wald einem Mann begegnet, der ihn offenkundig fangen oder töten will. Nur weil ein riesiger Kerl (Nonso Anozie) auftaucht, kann Gus entkommen. Doch der Riese folgt ihm bis zu seiner Hütte. Nach anfänglichem Zögern spricht Gus mit dem Fremden, der ihm nichts tun will und erfährt ein paar Dinge über die Welt da draußen. Deshalb beschließt er, sich dem großen Mann, der auf den Namen Jeppard hört, anzuschließen und sich auf den Weg nach Colorado zu machen, wo er seine Mutter vermutet. Doch Jepp ist alles andere als scharf darauf, Gus mitzunehmen …

Für Comic-Kenner kaum wiederzuerkennen

Auch hier werden sie die Zuschauer wieder in zwei Lager teilen. Die Kenner des Comics und die, die von Sweet Tooth vor der Serie noch nie gehört haben. Während letztere die vielleicht schönste und freundlichste Dystopie bekommen, die sie je gesehen haben, ist die Serie für Leser der Comics ein weiteres mal ein Schlag ins Gesicht. Und der ist so heftig wie lange nicht. Denn abgesehen von einigen Charakteren und der ganz groben Story hat die Netlix-Serie nicht das Geringste mit der Vorlage zu tun. Lemires Saga ist düster, ernst, brutal und gemein. Downey Jrs. Serie ist bunt, freundlich und harmlos. Und so ist auch der oft gehörte Satz „Mad Max trifft Bambi“ eigentlich nicht treffend, denn sowohl Mad Max als auch Bambi waren düsterer als diese Serie.

Warum man eine hochgelobte Comic-Serie als Adaption nicht nur fast komplett entkernt, sondern auch noch bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, ist eine Frage, die sich beim Ansehen von Sweet Tooth sehr berechtigt stellt. Eine Antwort darauf geben die ersten vier Folgen der Serie natürlich nicht. Comicfans müssen sich also auf viele unliebsame Überraschungen gefasst machen. Aber was ist mit den Zuschauern, die komplett unvorbelastet einschalten? 

Sweet Tooth
Gus wurde deshalb von seinem Vater tief in die Wälder gebracht und dort in völliger Isolation aufgezogen.

So schön ist Weltuntergang!

Die bekommen in der Tat eine dystopische Welt präsentiert, wie sie hübscher kaum sein kann. Die Natur erholt sich ohne die Menschheit prächtig, was als wunderbarer Seitenhieb auf die aktuelle Situation verstanden werden darf. Und so präsentiert die Serie wunderbare Landschaftspanoramen und unberührte Natur satt. An den wenigen Orten, an denen noch Menschen leben, ist es entsprechend braun, dreckig und schäbig. Gus und andere wie er werden von den Menschen gejagt, weil sie für den Grund der Seuche gehalten werden. Aber gerade dieses Hybriden scheinen einen ganz anderen Kontakt zu Tieren und Pflanzen zu haben als der Rest der Menschheit. Eine schöne Botschaft also, die Sweet Tooth hier verbreitet – und das komplett jugendfrei.

Selbst wenn hier Menschen sterben, wird nicht geblutet, Prügeleien bleiben äußerlich ohne Folgen. Nicht jeder wird diesen Widerspruch zwischen angeblichem Untergang der Zivilisation und Heile-Welt-Optik mögen, aber Spannung erzeugen diese Konflikte des Plots durchaus. So haben sich manche Kinder mittlerweile gegen die letzten Menschen gestellt und beschützen die Hybriden und die Natur – ein weitere gelungener Kommentar auf die Fridays For Future“-Debatte. Showrunner Jim Mickle, der auch in einigen Folgen Regie führt, erzählt die Story von Gus und ein paar anderen Charakteren ohne Hast und sehr episodisch, auch wenn es letztlich eine lange Geschichte ergibt. Dadurch bekommt Sweet Tooth zumindest eine Leichtigkeit, die die Vorlage nicht zu bieten hat.

Sweet Tooth
Doch die Truppen von General Abbot jagen Hybride nach all den Jahren noch immer im ganzen Land.

Wirklich sehenswert macht die Serie aber Christian Convery. Der junge Darsteller spielt den klugen, friedvollen, aber auch völlig unerfahrenen und naiven Gus mit bestechendem Charme. Wenn er lächelt, hat man Mühe, nicht zurückzulächeln, so sehr fühlt man sich bald zu Gus hingezogen. Auch Nonso Anozie als gutmütiger Bär von einem Kerl, der mit seiner dunklen Vergangenheit zu kämpfen hat, ist extrem sympathisch. Weitere Figuren wie Aimee und Dr. Singh werden zwar in den ersten Folgen eingeführt, man weiß aber noch nicht, wie genau die in Gus‘ Story passen. Den Bösewicht der Serie zeigen die Macher gar erst in Folge vier zum ersten Mal – und das auch nur kurz. Sweet Tooth versucht deutlich sichtbar, neue Wege zu gehen. Ob das wirklich gelingt, lässt sich nach der ersten Hälfte der Staffel noch immer nicht sagen.

Fazit:

Mit Sweet Tooth nimmt sich Netflix einer Comic-Adaption an, die im Original eine düstere und brutale Story erzählt – und verwandelt sie in eine Art Märchenplot. Das wird die Fans des Comics abschrecken, aber auch wer die nicht kennt, dürfte vom wunderschönen Look des Weltuntergangs erst einmal irritiert sein. Allerdings macht der Charme des kleinen Hauptdarstellers eine Menge dieser seltsamen Momente wett. So bleibt nach den ersten vier Episoden ein zwiespältiger Eindruck. Drei parallel erzählte Geschichten, die noch nicht zusammenfinden, lassen viele Fragen offen und dass die Welt tatsächlich so furchtbar sein soll. lässt sich angesichts der ersten Folgen kaum glauben. Als positiver Eindruck bleibt aber die originelle Idee, die Sweet Tooth aus dem Sci-Fi-Fantasy-Einheitsbrei herausragen lässt.

Sweet Tooth startet am 4. Juni 2021 bei Netflix.

Gus, Bear und Jeppard
Können seine neuen Freunde Bear und Jeppard Gus helfen, sein Ziel zu erreichen und dort seine Mutter zu finden?