The Woman in the Window

Filmkritik: The Woman in the Window

Der britische Regisseur Joe Wright dreht oft zwei Arten von Filmen. Entweder nimmt er sich Literatur-Klassiker und Schwergewichte vor, so drehte er „Anna Karenina“, „Stolz und Vorurteil“ oder auch „Abbitte“ nach dem Roman von Ian McEwan. Oder er will das Publikum vor allem spannend unterhalten wie bei „Wer ist Hanna?“, der Grundlage für die gleichnamige Amazon-Serie war – und jetzt mit „The Woman in the Window“. Der Film mit Amy Adams in der Hauptrolle hätte eigentlich über FOX in den Kinos laufen sollen. Er wurde aber erst wegen Nachdrehs zurückgezogen und geriet dann in die Pandemie-Pause der Lichtspielhäuser weltweit. Disney gab den Film daraufhin an Netflix ab, statt ihn selbst im eigenen Streaming-Dienst zu veröffentlichen. Ein schlechtes Zeichen?

The Woman in the Window
Auch wenn Anna selbst Schwierigkeiten hat, merkt sie doch sofort: Der neue Nachbarsjunge Ethan hat erste Probleme.

Die Handlung

Anna Fox (Amy Adams) ist Kinderpsychologin, braucht aber selbst Hilfe. Seit sie von Mann (Anthony Mackie) und Kind getrennt lebt, hat sie eine Agoraphobie entwickelt und ist nicht in der Lage, ihr Haus zu verlassen. Kontakt zur Außenwelt hat sie lediglich über ihren Untermieter David (Wyatt Russell) und ihren Therapeuten Dr. Landy (Tracy Letts, der auch das Drehbuch schrieb). Das ändert sich, als im Haus gegenüber eine Familie einzieht. Denn ein paar Tage später lernt sie deren Sohn Ethan (Fred Hechinger) kennen, der auf die Psychologin einen verstörten Eindruck macht und offensichtlich Probleme hat. Etwas später hilft Ethans Mutter Jane (Julianne Moore) Anna, als die eine Panikattacke an der Haustür erleidet.

Die beiden Frauen freunden sich über einem Glas Wein und ein paar Gesprächen an. Wenig später begegnet Anna dann zum ersten Mal dem Vater Alistair (Gary Oldman), der auf sie zutiefst aggressiv und gewalttätig wirkt, so dass sie beginnt, sich um Ethan und Jane zu sorgen. Tage später wird ihre Sorge auf brutalste Weise bestätigt: Durch Geräusche aufgeschreckt, beobachtet sie in der Wohnung gegenüber den Mord an Jane! Sofort ruft sie die Polizei, doch deren Erscheinen bringt Falten an den tag, mit denen Anna nicht umgehen kann. Alistair hat seine angeblich tote Frau dabei. Und diese Jane (Jennifer Jason Leigh) sieht völlig anders aus als die Frau, die Anna kennengelernt hat. Sind Anna Medikamente und ihr Zustand daran schuld, dass sie sich das alles nur eingebildet hat?

Hommage an Hitchcock

Joe Wright hat ein Faible für Klassiker, das hat er mit seinen Literaturverfilmungen und Historiendramen wie „Darkest Hour“ bereits bewiesen. Doch das betrifft nicht nur Bücher, sondern auch berühmte Kollegen. Aus dem Roman von A.J. Finn macht er eine Hommage an den vielleicht berühmtesten britischen Regisseur aller Zeiten: Alfred Hitchcock. Wright nutzt nicht nur die bei Hitchcock beliebten inszenatorischen Tricks wie die voyeuristische Kameraperspektive, die dem Zuschauer oft vorgaukelt, jemand könnte Anna in ihrer eigenen Wohnung beobachten, während sie die Nachbarn ausspäht. In einer Szene lässt er im TV sogar Szenen von Hitchcocks Psychoanalyse-Thriller „Ich kämpfe um dich“ laufen, für die damals Salvatore Dali die Traumsequenzen schuf.

Und natürlich hat die ganze Story mehr als nur ein paar Parallelen zu Hitchcocks Klassiker „Fenster zum Hof“, wenn Anna den möglichen Killer Alistair durch den Sucher ihrer Kamera nicht aus den Augen lässt. Nur dass diesmal eben kein Fotograf mit Beinbruch einen Mord beobachtet, sondern der immer wieder beliebte beliebte Twist vom unzuverlässigen, weil den eigenen Sinnen nicht trauenden, Beobachter gezogen wird. Ob Anna wirklich einen Mord gesehen hat oder alles nur in ihrem definitiv nicht richtig arbeitenden Kopf geschah, ist denn auch das zentrale Thema von The Women in the Window. Und da fangen die Probleme an. Denn ein Film, der sich eigentlich nur um eine Frage dreht, kann sich nicht ewig um die Antwort drücken. Wright verliert hier schlicht zu viel Zeit – und sein Thriller an Tempo.

The Woman in the Window
Bald lernt Anna Ethans Mutter Jane kennen, doch sie möchte nicht über Ethans Sorgen sprechen.

Arg konstruierte Story

Zudem ist der ganze Plot zwar durchaus clever konstruiert, dennoch ist er sehr konstruiert. Und die Wahrscheinlichkeit, dass eine Konstellation entsteht, die für diese Story gebraucht wird, sollte man sich als Zuschauer lieber nicht überlegen. Das ist zwar bei Thrillern nicht wirklich ein Qualitätskriterium, weil dieses Genre oft mit solchen Geschichten arbeitet. The Woman in the Window trägt in Sachen Zufälle aber schon sehr dick auf. Zudem hat der Film das Problem des Spannungsaufbaus. Denn wenn das Publikum nicht glaubt, dass Anna sich alles nur eingebildet hat, ist das Feld der möglichen Täter doch sehr überschaubar. Glücklicherweise hat Wright für seine potenziellen Killer zumindest tolle Schauspieler gefunden. Auch wenn die Rollen von Wyatt Russell und Gary Oldman nicht sehr groß sind, setzen beide deutlich Duftmarken.

Tragen muss den Film aber Amy Adams und das macht die stets etwas verletzlich wirkende Darstellerin auch hier tadellos. Sie ist in jeder Szene zu sehen und erledigt ihren Job, beim Zuschauer lange Zweifel an der Glaubwürdigkeit ihrer Erlebnisse zu säen, sehr gut. Aber auch sie vermag es nicht, die Spannung über die gesamte Laufzeit von gut 100 Minuten auf einem Maximum zu halten. Insgesamt überzeugt der Cast bis in kleine Nebenrollen. Aber Wrights zurückhaltende, manchmal an Theaterbühnen erinnernde Inszenierung halten das Publikum zu sehr auf Abstand, um ordentlich mitfiebern zu können. Dass Disney den Film nicht selbst auswerten wollte, sondern ihn an die Konkurrenz abgetreten hat, ist also durchaus nachvollziehbar.

The Woman in the Window
Weiß Annas Untermieter David mehr über die Sache, als er zugibt?

Fazit:

The Woman in the Window wandelt sowohl bei Regie als auch Inhalt deutlich auf den Spuren des Thriller-Großmeisters Alfred Hitchcock, ohne jemals in die Nähe seiner Qualität zu kommen. Zwar verbeugt sich Joe Wright hier artig vor dem großen Landsmann, seine Raffinesse im Weben von spannenden und auch emotional ansprechenden Plots erreichen Wright und sein Autor  Tracy Letts aber nicht. Vergleicht man den Film mit anderen Netflix-Thrillern wie „A Fall From Grace“ oder „Secret Obsession„, schneidet Wrights ursprünglich fürs Kino produzierter Film zwar deutlich besser ab. Aber auf der Leinwand hätte der zu lange und nicht durchgehend spannende The Woman in the Window trotz guter Schauspieler wohl nicht gepunktet. Wer keinen Hitchcock-Film erwartet, wird aber angenehm unterhalten.

The Woman in the Window startet am 14. Mai 2021 bei Netflix.

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The Woman in the Window
Die angeblich echte Jane droht Anna mit Konsequenzen, sollte sie ihre Beobachtungen nicht sein lassen.