X-Plakat

Filmkritik: X

Bevor die USA ihren Jugendschutz auf „NC-17“ umstellte, was nur Erwachsenen die Sichtung eines Films erlaubt, galt das „X“-rated als höchste Einstufung. Ob Horrorspezialist Ti West in seinem neuen Film mit dem Titel darauf anspielt? Die Chancen stehen gut, denn die Handlung führt gleich zwei stark X-rated-gefährdete Genres zusammen: blutigen Horror und Pornographie. Die stehen beide nicht in Verdacht, den Zuschauern besonders spektakuläre Storys zu erzählen, in der Regel geht es mehr um die Schauwerte. Zwar ist der Sex in X für europäische Verhältnisse recht harmlos, der Blutfaktor dafür aber hoch. Also ein weiterer, typischer Slasher in der Tradition von „Freitag, der 13.“ oder „Texas Chainsaw Massacre„? Das klärt die Kritik.

X Gruppe
Noch sind die Porno-Filmer guter Dinge: Auf einer Farm soll ihr Meisterwerk entstehen.

Die Handlung

1979. Seit den Erfolgen von Pornofilmen in den Kinos träumt Wayne (Martin Henderson) vom großen Geld mit einer eigenen Produktion. Gemeinsam mit seiner Freundin Maxine (Mia Goth), der Stripperin Bobby-Lynne (Brittany Snow), Darsteller Jackson (Scott Mescudi) und dem jungen Regisseur RJ (Owen Campbell) und dessen Freundin Lorrain (Jenna Ortega, „Scream“), die als Beleuchterin arbeitet, fährt Wayne daher aufs texanische Land hinaus, wo er von einem alten Ehepaar eine Hütte gemietet hat. Dort soll der Film entstehen, von dem sich Wayne bald Millionen auf dem Konto erhofft. Und seiner Freundin zum Durchbruch als Darstellerin verhelfen soll. Natürlich kommt es aber anders als erwartet.

Schon die Ankunft ist nicht so, wie sich die Crew das vorgestellt hat. Denn der alte Mann, dem das Grundstück gehört, reagiert extrem unfreundlich auf die Besucher. Und die dazu gehörende Gattin scheint sich im Übermaß für die jungen Leute und deren Projekt zu interessieren. Während die Dreharbeiten laufen, kommt es dann zu seltsamen Ereignissen rund um die Hütte an einem kleinen Teich. Hat das alte Ehepaar etwa verschwiegen, dass sich hier noch weitere Menschen herumtreiben?

Die Kettensäge lässt grüßen

Bereits im Vorfeld wurde Ti Wests neuer Film immer wieder mit 70er-Jahre Slashern verglichen. Zu einem gewissen Teil sicher, weil er auch in dieser Zeit spielt und alt aussieht, was das Filmmaterial angeht. Aber natürlich auch, weil es sich bei X letztlich auch um einen Slasher handelt, wenn auch unter anderen Vorzeichen als sonst. Denn Regisseur Ti West, der in seiner Karriere bislang hauptsächlich Horrorfilme gedreht hat, geht hier nicht nur zeitlich, sondern auch erzählerisch zurück zu den Wurzeln des Horror-Sub-Genres. Er stellt nicht den Killer, sondern die Opfer in den Fokus seines Films. Und das führt zu interessanten Verschiebungen des sonst üblichen Tempos solcher Geschichten.

West lässt sich viel Zeit, um seine Figuren einzuführen. Eine Stunde passiert für Horrorfans scheinbar nicht viel, West beobachtet seine Protagonisten bei der Arbeit und der Freizeit, lässt sie von ihren Träumen erzählen, am Abend sogar gemeinsam Lieder singen. Doch West nutzt diese Stunde gleich für mehrere Dinge. So lässt er langsam eine immer stärker werdende Atmosphäre der diffusen Bedrohung aufziehen, die sich nur schwer an den offenbar einzigen anderen Menschen dort festmachen lässt. Und er gibt in X ein paar klare Statements zu weiblicher Sexualität ab, die es in einem Originalfilm aus dieser Zeit so wohl nicht gegeben hätte, von Russ Meyer mal abgesehen. All das führt zu einem Phänomen, das im modernen Slasher-Kino kaum noch bekannt ist: Die Opfer sind dem Zuschauer nicht egal.

X Martin Henderson
Doch der Vermieter entpuppt sich als wenig freundlicher Zeitgenosse.

Wenn die Opfer nicht egal sind

Denn wenn der Film nach einer guten Stunde mit dem Teil beginnt, für den wohl die meisten im Kino sitzen, dann kennt das Publikum die Figuren – und keiner davon dürfte in deren Augen den Tod verdient haben. Das sorgt dafür, dass man hier nicht nur dem klassischen Final Girl mitfiebert, sondern auch den anderen Charakteren eigentlich nichts Böses wünscht. Und die Verletzungen, die sie hier erleiden, beim Zusehen auch etwas mehr schmerzen als üblich. West nutzt seinen langsamen Spannungsaufbau routiniert und lässt den Zuschauer lange im Unklaren darüber, was genau sich auf dieser Farm im Nirgendwo eigentlich abspielt. Und täuscht mehrfach den Beginn der Mordserie an, bevor es dann tatsächlich losgeht.

Und weil er sich dann wenig zimperlich zeigt, kommen Fans des Genres durchaus auf ihre Kosten. Aber im Vergleich zu Filmen wie den neuen Texas Chainsaw Massacre bei Netflix, wo es nur noch um möglichst viele blutige Kills geht, hat X deutlich mehr zu bieten: Echte Emotion beispielsweise. Denn West nutzt seine Charaktere eben nicht nur als Blutbeutel. Daneben beweist West auch inszenatorische Qualitäten, seine Kamera-Perspektiven und Schwenks sorgen für einen guten Teil des Thrills im Film. Immer wieder zeigt er dem Publikum Bedrohungen, die den Protagonisten nicht klar sind. Was vor Jahrzehnten schon bei Hitchcock gut funktionierte, hat auch bei West nichts von seiner Wirkung verloren. West mischt diesen hohen Suspense-Anteil virtuos mit kurzen, aber blutigen Momenten.

Mia Goth
Maxine sieht den Film als Chance, endlich die ihr zustehende Berühmtheit zu erlangen.

Ti West erfindet mit X das Genre des Slasher-Films nicht neu. Aber er besinnt sich auf Qualitäten, die frühere Werke zu den Klassikern machte, die sie heute sind. Ob man West nun dafür feiern sollte, dass er seine weiblichen Figuren selbst bestimmt zeichnet und mehr aus ihnen macht als hübsche Körper, das mögen andere entscheiden. Wirklich essentiell wichtig für die Qualität des Films ist dieser Umstand nicht, aber es gibt dem Film einen Dreh, den man gerade in Horrorfilmen nicht erwartet.

Das Prequel „Pearl“ ist bereits abgedreht und dürfte spätestens im kommenden Jahr erscheinen.

Fazit:

Mit dem wohl kürzesten Horrorfilm-Titel überhaupt – X – hat Regisseur, Produzent und Drehbuchautor Ti West einen Höhepunkt des  bisherigen Kinojahres abgeliefert. Lange lässt er sich Zeit, seine Figuren zu entwickeln und setzt in der ersten Stunde des Films immer wieder virtuose Suspense-Momente, bevor er in den finalen 30 Minuten dann durchaus derb zur Sache geht. Sonst ist der Film zwar nicht sonderlich innovativ, was Handlung oder Gewalt angeht, aber was West macht, das macht er auf einem hohen Niveau. Ein überzeugender Cast, eine gute Story, und sogar ein paar gesellschaftskritische Seitenhiebe auf die Rolle der Frau in den späten 70ern – das bekommt man in einem Horrorfilm so gebündelt doch eher selten zu sehen.

X startet am 19. Mai 2022 in den deutschen Kinos.

Jenna Ortega
Erst viel zu spät erkennt die Filmcrew, wo sie tatsächlich gelandet sind.