Der verlorene Sohn

Filmkritik: Der verlorene Sohn

Wahre Geschichten entfalten im Kino oft eine ganz eigene Magie. Die Vorstellung, das kein Autor sich diese Szenen ausgedacht, sondern jemand sie tatsächlich erlebt hat, machen einen Film intensiver und emotionaler. Das gilt auch für „Der verlorene Sohn“, die zweite Regiearbeit von Schauspieler Joel Edgerton. Er schrieb das Drehbuch nach den Memoiren von Garrard Conley, der in einer strenggläubigen Baptistenfamilie aufwächst – und irgendwann entdeckt, dass er schwul ist.

Die Umerziehung homosexueller Kinder in christlichen Kursen klingt erst einmal nach dem „Bible Belt“ im Süden und Westen der USA. Aber überall auf der Welt wird dieser Versuch, Homosexuelle „von ihrem Leiden zu heilen“, noch immer angewandt. Selbst in Deutschland sind solche Umerziehungskurse noch nicht verboten, auch wenn Gesundheitsminister Spahn jetzt ein entsprechendes Gesetz auf den Weg bringen will. Was den Jugendlichen damit tatsächlich angetan wird, zeigt Der verlorene Sohn.

Der verlorene Sohn
Unerfahren und unsicher macht Jared auf der Uni erste homosexuelle Erfahrungen – und das kommt heraus.

Der verlorene Sohn: Die Handlung

Jared Eamons (Lucas Hedges) ist der ganze Stolz von Mutter Nancy (Nicole Kidman) und Vater Marshall (Russell Crowe) einem Baptistenprediger in Arkansas. Doch auf der Universität verliebt sich Jared in seinen Mitbewohner und teilt mit ihm erste sexuelle Erfahrungen. Als das herauskommt, sind seine Eltern enttäuscht und wütend und verlangen von ihrem Sohn, sich in die Hände von John Sykes (Joel Edgerton) zu begeben, der in christlichen Kursen junge Menschen von der Krankheit der Homosexualität heilen will.

Weil er seine Eltern liebt, nimmt Jared trotz großer Zweifel an diesem Kurs teil. Schon bald muss er feststellen, dass die Meinung von Sykes über alle Teilnehmer bereits feststeht. Für den Kursleiter ist Homosexualität eine bewusste Entscheidung, die in der Regel durch mangelnde oder schlechte Erziehung hervorgerufen wird. Und so müssen die Teilnehmer beispielsweise aufschreiben, wer in ihrer Familie bereits Probleme mit Alkohol oder Süchten hatte und wer einen lockeren Lebensstil pflegt. Bald kommt es zur Katastrophe …

Der verlorene Sohn: Bilder, die fassungslos machen

Joel Edgerton, der hier nicht nur inszenierte und das Drehbuch schrieb, sondern auch produzierte und die Rolle des Antagonisten übernahm, hatte viel zu tun. Doch offenbar nicht zuviel. Denn Der verlorene Sohn funktioniert wir ein Steigerungslauf. Gut geplant und ausgeführt, führt der Film mit jedem Schritt ein Stück weiter in ein Szenario, dass sich weltoffene, liberale Zuschauer kaum als Realität vorstellen können, so unglaublich sind die Dinge, die Edgerton hier zeigt. Dieser Einschlag ist es auch, der den Film so nachhaltig macht.

Edgerton zeigt mit Jared als Beobachter auch andere Jugendliche, wie Jon (Xavier Dolan), der unbedingt geheilt werden will, oder Gary (Troye Sivan), der einfach nur mitspielt, um bald wieder nach Hause zu dürfen. Und auch Cameron (Britton Sear), den Sykes besonders auf dem Kieker hat und ihm mithilfe der eigenen Familie grausame Dinge antut. Dass Sykes in der allerletzten Szene noch einen besonderen Twist bekommt, öffnet dem Zuschauer im Nachhinein noch die Augen. Edgerton spielt diesen Mann absolut beeindruckend.

Der verlorene Sohn
Jareds tiefreligiöse Eltern sind davon schwer getroffen und erwarten von ihrem Sohn, dass er sich ändert.

Der verlorene Sohn: Die Australien-Connection

Mit Lucas Hedges holte sich Edgerton den momentan wohl angesagtesten Jungstar Hollywoods als Hauptrolle. Aber als seine Eltern besetzte der Australier mit Kidman und Crowe zwei Landsleute. Und auch das ist ein Glücksgriff. Crowe nimmt man den gottesfürchtigen Patriarchen jederzeit ab. Und Kidman gelingt es, die Verwandlung der fast hörigen Gattin und Friseurin zu einem um ihr Junges kämpfendes Muttertier sehr überzeugend und glaubwürdig zu spielen. Hedges selbst ist als verschlossener, schüchterner Teenager ebenfalls sein Geld wert.

Der Originaltitel „Boy erased“ (dt. Junge ausradiert) trifft allerdings den Kern der Geschichte noch besser als Der verlorene Sohn. Denn in Sykes‘ Camp geht es um nichts anderes als die möglichst komplette Auslöschung eines Charakters zugunsten einer Konformität, die sich die Eltern der Betroffenen so sehr wünschen. Und auch bei den Gründen für das Verhalten der Eltern trifft Edgerton den Nerv, wenn er alte Männer zeigt, die in der Küche der Eamons sitzen und mit dem Vater über die Zukunft seines Sohnes diskutieren wie Stammesfürsten.

Auch ohne blutige Bilder erzeugt Edgerton mit seinem Film echten Horror. Darüber, dass solche Camps noch immer existieren, dass Menschen Kindern und Jugendlichen noch immer so etwas antun dürfen – im Namen der Religion. Denn an der christlichen Wurzel dieser unmenschlichen Handlungen lässt Edgerton keinen Zweifel. Einem derart bedrückenden Thema setzt der Regisseur dennoch ein paar Szenen entgegen, die Hoffnung machen, wenn auch kein typisches Happy-End in Sicht ist. Und entlässt sein Publikum deshalb auch ohne Groll.

Fazit:

Dass Der verlorene Sohn in den USA kaum Zuschauer anlockte, sagt wenig über die Qualität des Films aus. Denn Multitalent Joel Edgerton gelang mit sehr zurückgenommener, ruhiger Erzählweise ein beeindruckender Film über Kinder, die den Erwartungen ihrer Eltern nicht entsprechen. Und den Preis, den sie dafür zahlen müssen. Dass die Dinge im Film tatsächlich auch so passiert sind, verwandelt Edgertons Film teilweise in ein echtes Horror-Erlebnis. Und endet doch mit einem Silberstreif am Horizont.

Der verlorene Sohn startet am 21. Februar 2019 in den deutschen Kinos.

Der verlorene Sohn
Und so schicken sie ihn zu Therapeut John Sykes, der glaubt, Homosexualität heilen zu können.