Systemsprenger

Filmkritik: Systemsprenger

Schon bevor die erste Klappe fiel, gewann Nora Fingscheidts Debüt-Spielfilm etliche Preise – für das herausragende Drehbuch. Dass die Dokumentarfilmerin mit ihrem ersten Spielfilm auch eine ebensolche Verfilmung gelang, belegen weitere Preise – diesmal für den fertigen Film. Als bisherige Krönung wurde „Systemsprenger“ im August auserkoren, Deutschland als offiziellen Beitrag bei den Oscars 2020 zu vertreten. Ist der Film überschätztes Kopfkino oder tatsächlich so gut?

Das Thema klingt erst einmal nicht danach, als ob man sich diesen Film gern ansehen würde – ein problematisches Kind. Aber die Filmgeschichte ist voll von Filmen, die sich mit Außenseitern, Querköpfen, Verrückten, Wahnsinnigen und vielen anderen Charakteren befassten, die nicht der Norm entsprechen. Da passt auch die Hauptfigur von Systemsprenger gut hinein. Deren Darstellerin Helene Zengel hat – wohl aufgrund dieses Films – inzwischen eine Rolle in Hollywood ergattert, an der Seite von Tom Hanks. Wer diesen Film sieht, weiß schnell – das hat sie verdient.

Systermsprenger
Alles, was Benni sich wünscht: bei ihrer Mutter sein.

Systemsprenger: Die Handlung

Die Erzieher und Sozialarbeiter haben zum Teil schon resigniert. Die neunjährige Bernadette, genannt Benni (Helene Zengel), kann nicht bei ihrer Mutter (Lisa Hagmeister) leben. Denn die hat Angst um die beiden kleineren Geschwister. Wenn Benni einmal in Wut gerät, ist sie wie ein Berserker und kommt wie eine Naturgewalt über ihre gesamte Umgebung. Ohne Rücksicht auf Verluste. Deshalb muss die Neunjährige bei Pflegestellen und im Heim leben. Sozialarbeiterin Bafane (Gabriela Maria Schmeide) möchte Benni helfen – nur wie?

Schließlich versucht es Micha (Albrecht Schuch), der zunächst als Schulbegleiter für Benni eingestellt wird, sein Glück. Seine Erfahrung mit aggressiven Jungs soll ihm auch bei Benni helfen. Er nimmt Benni mit in eine einsame Hütte irgendwie in der Lüneburger Heide. Und tatsächlich gelingt es ihm in den Wochen ohne andere Einflüsse, einen Draht zu Benni zu finden – das Mädchen vertraut ihm. Weil sie in ihm aber nun einen Ersatzvater sieht und er eigene Familie hat, will er den Fall wieder abgeben. Benni droht erneut, durch alle Raster zu fallen …

Systemsprenger: Ein Alptraum für Eltern

Den Horror, den dieser Film verbreitet, wird sicher jeder Zuschauer mitfühlen, der halbwegs empathisch ist. Wer aber selbst Kinder hat oder regelmäßig mit ihnen zu tun hat, für den wird Systemsprenger noch eine Spur härter, da viele Momente im Alltag bekannt sind – nur meist nicht in dieser verschärften Form. Was einem Kind widerfährt, das nicht gewollt ist, sich aber einfach nur nach Liebe und Geborgenheit sehnt, die erforderlichen Mittel dazu aber nie erlernt hat, ist nur schwer zu ertragen. Was umso schlimmer ist, weil genug Menschen da sind, die eigentlich helfen wollen.

Doch das System lässt bestimmte Dinge nicht zu – und Benni ist die Leidtragende. Und die ist durch etliche psychische Narben eigentlich schon genug bestraft. Dennoch wird sie immer wieder von Erwachsenen enttäuscht, die sich ihr nähern und ihr Versprechungen machen, um dann im entscheidenden Moment doch zu kneifen. Dass das sogar die eigene Mutter tut, ist bereits in der Vorstellung schwer zu verdauen, es zu sehen, ist aber noch eine Spur härter. Deshalb ist Systemsprenger auch kein Film für extrem sensible Seelen.

Systemsprenger
Erzieher Micha versucht, Benni zu helfen. Doch auch er stößt bald an seine Grenzen.

Systemsprenger: Kraftwerk Kind

Diese Szenen sind schlimm, machen aber allein noch keinen guten Film aus. Dass Systemsprenger so gut ist, liegt an zwei anderen Dingen. Da ist einmal das großartige Drehbuch, von Regisseurin Fingscheidt selbst geschrieben, dass die ungeheure Kraft von Kindern perfekt einfängt. Denn obwohl Benni immer wieder enttäuscht und verletzt wird, steckt sie Tiefschläge weg wie ein Boxer und rappelt sich nur wenig später wieder auf ihre dünnen Beine. Dieser unbändige Lebenswille ist in diesem Film wie ein Licht in der Dunkelheit.

Der zweite Grund ist der herausragende Cast, allen voran Helene Zengel. Die inzwischen Elfjährige spielt Benni derart intensiv und glaubhaft, dass man sich als Zuschauer mal trösten und mal schütteln will. Der Film lässt das Publikum durch sie eine große Bandbreite unterschiedlicher Gefühle erleben, von Mitleid über Zorn und Abscheu ist alles dabei. Und nicht in einer einzigen Szene wirkt das gespielt oder unecht. Aber auch ihre Schauspiel-Kollegen überzeugen in ihren Rollen jederzeit. Und erschaffen so ein tieftrauriges Drama ohne echten Schurken.

Denn die Schuld lässt sich so einfach nicht zuweisen. Und selbst wenn man als Zuschauer für sich diese Frage klären kann, so hilft es Benni doch nicht weiter. Dass der Film trotz dieser zutiefst hoffnungslosen Situation immer noch Lichtblicke findet, ist ein kleines Wunder. Und erhebt Systemsprenger hoch über viele andere Filme, die sich mit einem sozial problematischen Thema beschäftigen. Ob der Film aufgrund seiner Thematik ein großes Publikum findet, ist fraglich. Verdient hätte er eins. Ein großer Film und würdiger Vertreter bei den Oscars!

Fazit:

Die junge Helene Zengel spielt Benni nicht, sie ist Benni. Und nimmt das Publikum in Systemsprenger dadurch mit auf einen Parforce-Ritt durch alle Instanzen des sozialen Netzes in Deutschland, durch dessen Maschen die Neunjährige immer wieder fällt. Dass es so düsterer Film dennoch kleine leuchtende Inseln erschafft, ist den herausragenden Schauspielern und einem großartigen Drehbuch zu verdanken. Ein Film, den man nicht so schnell vergisst, wenn man ihn gesehen hat – und nur aus den richtigen Gründen.

Systemsprenger startet am 19. September 2019 in den deutschen Kinos.

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Frau Bafane kann Bennis Marytrium bald kaum noch ertragen.