Lost Girls

Filmkritik: Lost Girls

Verbrechen sind in einem Film immer dann besonders schwer zu ertragen, wenn sie auf wahren Begebenheiten beruhen. Dass die Ereignisse in „Lost Girls“ wirklich passiert sind, macht denn auch einen großen Teil der Betroffenheit aus, den dieser Film auslöst. Regisseurin Liz Garbus, die viel Erfahrung im Inszenieren von Dokumentarfilmen besitzt, erzählt hier ein Drama, dessen Trailer irrtümlich auf einen spannungsgeladenen Krimi hindeutet. Ist der Film dennoch sehenswert?

Eine Mordserie, die seit mehr als 20 Jahren besteht. Zwischen zehn und 16 Opfer werden dem Long Island Killer mittlerweile angelastet, gefunden ist er bis heute nicht. Das macht klar, dass es in Lost Girls nicht um die Jagd der Polizei nach dem Killer geht. Sondern um die Familien der Opfer und ihrem Leid. Daher sollten Thriller-Fans, die auf einen Film in der Tradition von „Das Schweigen der Lämmer“ hoffen, besser nicht einschalten. Aber kann ein Film, der sich gar nicht mit den Ermittlungen beschäftigt, trotzdem spannend sein?

Lost Girls
Auch nach dem Fund mehrerer Frauenleichen geben Mari und Tochter Sherre die Hoffnung nicht auf, dass Shannan noch lebt.

Lost Girls: Die Handlung

Mari (Amy Ryan) hat kein leichtes Leben. Die alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern arbeitet in zwei Jobs, um halbwegs über die Runden zu kommen. Ihre älteste Tochter Shannan, die schon lange nicht mehr zuhause lebt, schickt zwar hin und wieder Geld, aber Mari fragt sicherheitshalber nicht, woher ihre Tochter die Scheine hat. Letztlich weiß sie aber, dass Shannan als Prostituierte arbeitet. Als sie eines Tages trotz Ankündigung nicht zum gemeinsamen Familienessen erscheint, macht sich ihre Schwester Sherre (Thomasin McKenzie) bald Sorgen.

Tatsächlich findet Mari nach anfänglichem Zögern schnell heraus, dass Shannan offenbar mitten in der Nacht in einer feinen Gegend auf der Straße um Hilfe rief, bei Anwohnern klopfte und Angst um ihr Leben hatte. Doch als die Polizei endlich eingetroffen war, war die junge Frau bereits verschwunden. Commisioner Richard Dorman (Gabriel Byrne) wird mit dem Fall betraut, als ein Streifenpolizist durch Zufall im Strandgebiet des Ortes vier Frauenleichen entdeckt. Doch Shannan ist nicht dabei. Lebt die junge Frau doch noch irgendwo? Mari sucht weiter …

Lost Girls: Soziales Drama statt Thriller

Keine cleveren Cops, keine Mörderjagd, keine überraschenden Twists. Lost Girls stellt nicht die Suche nach dem Täter in den Vordergrund, sondern die Verzweiflung der Opfer. Eines, das keines sein will, ist Mari, die Mutter dreier Töchter. Amy Ryan spielt diese zentrale Figur des Films mit so viel Herzblut, dass der Zuschauer anhand dieser realen Figur eine erstaunliche Wandlung durchmacht. Denn zu Beginn werden die meisten Mari nicht sonderlich gut leiden können. Das ändert sich im Verlauf der 90 Minuten drastisch, obwohl der Charakter es nicht tut.

Denn als Mari erst einmal für sich akzeptiert hat, dass ihre Tochter verschwunden ist, setzt sie Himmel und Hölle in Bewegung, um für Aufklärung in diesem Fall zu sorgen. Und doch hört der grellen Blondine aus der Unterschicht zuerst niemand zu. Als der Fund von vier Leichen aber Bewegung in den Fall bringt, schlägt Marias große Stunde. Mit enormer Penetranz und Mut zum Risiko geht sie der Polizei, auf mithilfe der Medien, derart auf die Nerven, dass die schließlich widerwillig doch aktiv wird. Obwohl sie das fast ihre restliche Familie kostet.

Lost Girls
Commissioner Dorman muss im Gesprächen mit Mari etliche Polizeifehler bei den Ermittlungen einräumen.

Lost Girls: Starker Jungstar

Denn neben Ryan als Mutter Mari gänzt auch Thomason McKenzie als Tochter Sherre. Die 19-jährige, die ihre erste große Rolle in Peter Jacksons „Hobbit“ spielte und mit „Leave no Trace“ und besonders „Jojo Rabbit“ aufhorchen ließ, hat für diesen Part angeblich sogar Tom Cruise für „Top Gun: Maverick“ abgesagt. Schauspielerisch hat sich diese Entscheidung ausgezahlt, denn sie spielt den ruhigen Gegenpol der knurrigen und aufbrausenden Mari mit genau der Zurückhaltung, die der Film braucht, um zu berühren. Und das tut Lost Girls in der Tat.

Dass er keinen noch stärkeren Eindruck hinterlässt, liegt am mäßigen Drehbuch, das viele Aspekte der Geschichte schlicht ignoriert. Warum beispielsweise auf Seiten der Polizei so schlampig gearbeitet wurde und das offenkundig keine Konsequenzen nach sich zog, erklärt der Film nicht. Ebenso wenig wie mögliche Spuren, die an den Leichen entdeckt wurden. Zudem macht das Script den Fehler, Mari ebenfalls auf Mördersuche gehen zu lassen, das aber derart halbherzig, dass diese Szenen zu den schwächsten Momenten im ganzen Film zählen.

Stark wird Lost Girls immer dann, wenn sich die Verwandten der anderen Opfer treffen, um die Sache selbst in die Hand zu nehmen, an ihre Töchter und Schwestern erinnern und dabei ihrer Wut auf die Behörden freien Lauf lassen. Und auch dann, wenn Mari langsam mit ihrer immensen Schuld und ihrer Scham umgehen lernt und sich daran erinnert, dass sie mehr als eine Tochter hat. Als Sozialdrama überzeugt der Film durchgehend, seine Thriller-Anteile bleiben hinter den Erwartungen zurück.

Fazit:

Toll gespielter, aber nur mäßig geschriebenes Sozialdrama, das den Netflix-Zuschauern im Trailer einen Thriller vorgaukelt, den es nicht gibt. Als Studie über den Schmerz der Hinterbliebenen funktioniert Lost Girls dank starker Stars wie Amy Ryan und Thomasin McKenzie deutlich stärker denn als Mörderjagd nach einer wahren Begebenheit. Krimifans dürften hier also nicht auf ihre Kosten kommen. Wer ein erschütterndes Drama nach Tatsachen sehen möchte, ist bei den Lost Girls hingegen richtig.

Lost Girls startet am 13. März 2020 bei Netflix.

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Die Familien der Opfer trauern gemeinsam und entwickeln so eine starke Gemeinschaft, die das Andenken an die Toten am Leben hält.